Recht und Kapitalmarkt

KapMuG führt den Musterentscheid ein

Gesetz in Kraft getreten - Präzedenzfall ist Deutsche Telekom - Eine neue Situation für Banken, Emittenten und Anleger

KapMuG führt den Musterentscheid ein

Von Von Christian Wirth und Nicolai von Holst *) Am 1. November 2005 ist – zunächst befristet auf fünf Jahre – das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) in Kraft getreten. Es sieht wesentliche Neuerungen für die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformationen vor und findet auf bereits laufende Rechtsstreitigkeiten Anwendung. Das Gesetz ermöglicht durch den Musterentscheid eine einheitliche, vorweggenommene Entscheidung für gleichgelagerte Sachverhalte. Ein derartig institutionalisiertes Musterverfahren gab es bislang in Deutschland nicht. Es wird die Praxis der Banken und Investoren nachhaltig verändern. Nebeneffekt EntlastungAusgangspunkt für den Gesetzgeber, aktiv zu werden, sind die Telekom-Verfahren, bei denen über 2 000 Schadenersatzklagen von insgesamt über 15 000 Kapitalmarktanlegern gegen die Deutsche Telekom AG bei der zuständigen 7. Handelkammer des Landgerichtes Frankfurt eingereicht worden sind.Durch die seinerzeit in allen Nachrichten ausgestrahlten Bilder vollständig zugestellter Geschäftsstellenräume und einer hoffnungslos überlasteten Kammer ist, wohl auch wegen der zeitlichen Nähe zur zeitnah in Kraft getretenen Schuldrechts- und Zivilprozessrechtsreform, in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, dass das KapMuG in erster Linie der Entlastung der Justiz dienen solle. Dieser Eindruck ist jedoch nicht richtig. Die Entlastung – so sie denn tatsächlich eintritt – ist allenfalls ein erwünschter Begleiteffekt.Tatsächlich verfolgt der Gesetzgeber jedoch insbesondere einen ordnungspolitischen Ansatz. Ausgangspunkt der Überlegung war, dass der durch fehlerhafte Informationen entstandene Gesamtschaden zwar durchaus im Millionenbereich liegen kann, der Schaden des einzelnen Anlegers wie auch in den Telekom-Verfahren jedoch vergleichsweise gering ausfällt. Eine gerichtliche Geltendmachung des Schadens steht darum für Privatanleger oft in keinem Verhältnis zu dem verbundenen wirtschaftlichen Aufwand. In den Telekom-Verfahren belaufen sich allein die Sachverständigenkosten auf einen zweistelligen Millionenbetrag. Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass sich häufig viele geschädigte Anleger allein dadurch von einer Klage haben abhalten lassen – ob dies in Anbetracht der Bündelung derartiger Forderungen schon in der Vergangenheit durch diverse Initiativen von Anlegeranwälten etc. tatsächlich zutrifft, darf zumindest bezweifelt werden. Um dieses als Haupthindernis angesehene Kostenrisiko für die Anleger zu beseitigen, sieht das Gesetz eine in Deutschland bislang beispiellose Regelung vor. Der Staat streckt zunächst sämtliche Gutachterkosten vor. Kritiker des Gesetzes haben diese Regelung überspitzt mit dem Begriff “Klage jetzt und zahle später” beschrieben. Reinigende KraftIntention des Gesetzes ist es, mehr zu sein als nur eine Erleichterung der gerichtlichen Geltendmachung. Nach den Vorstellungen in den Motiven des Gesetzes sollen die Anleger sogar zu Klagen ermuntert werden, weil man sich davon eine “reinigende Kraft” und eine Verbesserung des Inhaltes von Kapitalmarktinformationen verspricht. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies als ein in der Rechtswirklichkeit tatsächlich realistischer Weg erweist.Der Anwendungsbereich des Gesetzes sind zivilprozessuale Klagen auf der Grundlage öffentlicher Kapitalmarktinformationen. Jede Prozesspartei (also z. B. auch der in Anspruch genommene Emittent) kann vor dem Prozessgericht erster Instanz einen Antrag auf Durchführung des Musterverfahrens stellen. Der Antrag wird im Klageregister des elektronischen Bundesanzeigers bekannt gemacht. Das Prozessgericht legt dem Oberlandesgericht (OLG) die Sache für das Musterverfahren vor, wenn innerhalb von vier Monaten nach der Bekanntmachung in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete zulässige Musterfeststellungsanträge gestellt werden. Während der Dauer des Musterverfahrens setzen die erstinstanzlichen Gerichte die Verfahren aus, deren Entscheidung durch das Musterverfahren berührt wird. Als BeigeladeneDas Oberlandesgericht bestimmt dann aus der Reihe der Kläger einen sogenannten Musterkläger, der das Musterverfahren führt, und macht anschließend die Durchführung des Musterverfahrens im Klageregister bekannt. Alle weiteren Kläger sind an dem Musterverfahren als Beigeladene beteiligt. Das Musterverfahren bleibt damit ein Massenverfahren und wird aufgrund der Beiladungen faktisch nicht als Zwei-Parteien-Prozess zwischen dem Musterkläger und dem Musterbeklagten geführt werden – auch wenn dies prozessökonomisch wünschenswert wäre. Erleichterung bei der organisatorischen Bewältigung ist hier lediglich insoweit zu erwarten, als öffentliche Zustellungen und Bekanntmachungen durch Eintragungen in das Klageregister ersetzt werden. Das OLG entscheidet über den Musterfeststellungsantrag nach mündlicher Verhandlung und ggf. Beweisaufnahme durch Beschluss, den sogenannten Musterentscheid. Dieser bindet die Prozessgerichte bezüglich der Verfahren, deren Entscheidung von der im Musterverfahren getroffenen Feststellung oder der im Musterverfahren zu klärenden Rechtsfrage abhängt. Mit dem KapMuG hat sich der Gesetzgeber bewusst gegen die Einführung von Sammelklagen, wie sie aus den USA bekannt sind, entschieden. Wichtig zu wissen ist deshalb, dass die ausgesetzten Verfahren auch nach rechtskräftigem Erlass des Musterentscheides damit noch nicht am Ende sind, sondern vielmehr separat weitergeführt und entschieden werden. Bindungswirkung hat der Musterentscheid nur hinsichtlich der zur Entscheidung durch das Oberlandesgericht gebrachten Rechtsfragen. Alle sonstigen oder darüber hinausgehenden Einwendungen der beklagten Prozesspartei bleiben unberührt und müssen vom Prozessgericht nach allgemeingültigen Prozessregeln entschieden werden (auch dies ein grundlegender Unterschied zur “class action” in den USA).Das Gesetz zur Einführung des KapMuG führt zwangsläufig zu Änderungen in zahlreichen Gesetzen wie Börsengesetz, Verkaufsprospektgesetz, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz und Gerichtsverfassungsgesetz. Hervorzuheben ist die Einführung eines ausschließlichen Gerichtsstandes für Klagen wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen in der Zivilprozessordung am Sitz des Emittenten oder der Zielgesellschaft (es sei denn, der Sitz befindet sich im Ausland). Diese Regelung war zuvor auf erbitterten Widerstand verschiedener Anlegerinteressenverbände gestoßen.Dass das KapMuG, wie Kritiker fürchten, zu einer unkontrollierten Flut von Anlegerklagen führt, ist nicht auszuschließen, aber nicht zwingend. Bereits vor Einführung entsprach es der Rechtswirklichkeit, dass sich vermeintlich geschädigte Anleger zu größeren Gruppen zusammengeschlossen haben, zum Teil mit recht aggressiven Methoden über das Internet oder über die Medien “eingesammelt”. Frühwarnsystem möglichEs ist kaum zu erwarten, dass ein einzelner Anleger unorganisiert ein Musterverfahren in Gang setzt und vier Monate wartet, ob sich Mitstreiter finden. Es dürften wohl eher die auch schon nach alter Gesetzeslage potenziellen klagebereiten Anleger sein, die das neue Forum ausnutzen. Für die etwaig betroffenen Banken, Emittenten und Unternehmen bietet sich mit der notwendigen Bündelung von entsprechenden Anträgen im Bundesanzeiger jetzt erstmals die Möglichkeit, mit einem “Frühwarnsystem” zu arbeiten und entsprechend präventiv reagieren zu können. In Anspruch genommene Banken, Emittenten und Unternehmen sind keineswegs nur auf die Rolle des passiv Abwartenden beschränkt. Auch sie könnten in entsprechenden Fällen ein Interesse daran haben, eine rechtsgrundsätzliche Frage von sich aus dem OLG zur Entscheidung vorzulegen. Die Gefahr von höhergerichtlicher Überprüfung nicht standhaltender Ausreißerentscheidungen unterer Instanzengerichte (insbesondere unter Treu-und-Glauben-Argumenten) kann dadurch unter Umständen spürbar verringert werden. *) Christian Wirth ist Partner, Nicolai von Holst Anwalt der internationalen Sozietät White & Case in Berlin.