RECHT UND KAPITALMARKT

Kein Nachbesserungsbedarf im Übernahmerecht

"Creeping-in" und "Low Ball Offers" sind legitime Transaktionsgestaltungen - Minderheitenschutz gewährleistet

Kein Nachbesserungsbedarf im Übernahmerecht

Von Stefan Widder und Dirk Kocher *)Spätestens seit der spektakulären Übernahme ACS/Hochtief hat das sogenannte “Creeping-in” die insbesondere durch die Übernahme “Schaeffler/Continental” ausgelöste Diskussion um das unbemerkte Anschleichen an eine Zielgesellschaft als Modethema im Bereich öffentlicher Übernahmen abgelöst. Es geht dabei um ein Vorgehen, bei dem sich ein Investor zunächst im Rahmen eines sehr niedrigen freiwilligen Übernahmeangebots zum Börsenpreis die Kontrollschwelle von 30 % sichert (“Low Ball Offer”). Danach kann er seine Beteiligung über die Börse auch zu höheren Preisen ausbauen, ohne dass dies Auswirkungen auf den Angebotspreis des vorhergehenden Angebots hätte und insbesondere ohne erneut ein Angebot an die Minderheitsaktionäre – ein sogenanntes Pflichtangebot – zu diesem höheren Preis machen zu müssen. PrämienentzugEs ist also grundsätzlich möglich, eine “knappe” Kontrollbeteiligung von wenig mehr als 30 % zu günstigen Konditionen zu erwerben und diese durch anschließende Zukäufe frei von übernahmerechtlichen Beschränkungen zu erhöhen, um anschließend zumindest die einfache Stimmmehrheit von 50 % zu überschreiten. Das wird vielfach als unbillig empfunden, weil den Minderheitsaktionären die ihnen angeblich zustehende Kontrollprämie dadurch teilweise entzogen werde.Ermöglicht wird das Creeping-in durch die Regelung des Übernahmerechts, wonach ein Pflichtangebot an die außenstehenden Aktionäre nur einmal bei Erreichen der Kontrollschwelle von 30 % der Stimmrechte erforderlich ist und ein Pflichtangebot unterbleiben kann, wenn die Kontrollschwelle aufgrund eines freiwilligen Übernahmeangebots – wenn auch möglicherweise nur um wenige Prozentpunkte – überschritten wird. Baut ein Investor seinen Anteil danach weiter aus, ist kein erneutes Angebot erforderlich. Das ist z. B. in Großbritannien, Frankreich oder Österreich anders, wo bei einer Aufstockung der Beteiligung ein weiteres Angebot fällig werden kann. Differenziertes KonzernrechtBei diesem häufig bemühten Vergleich wird aber übersehen, dass das deutsche Recht andere Schutzmechanismen für die Minderheitsaktionäre bietet: Kauft ein Investor innerhalb eines Jahres nach einem Angebot Aktien zu einem höheren Preis außerhalb der Börse, muss er die Differenz denjenigen Aktionären nachzahlen, die das Angebot angenommen haben. Außerdem kennt das deutsche Recht ein viel differenzierteres Konzernrecht als die meisten anderen Rechtsordnungen. Dadurch wird eine Wertminderung der Gesellschaft zulasten der Minderheitsaktionäre verhindert.Möchte der Mehrheitsaktionär Strukturmaßnahmen wie einen Beherrschungsvertrag, einen Squeeze-out, Verschmelzungen o. Ä. durchführen, so muss den Minderheitsaktionären eine Abfindung zum vollen Unternehmenswert bezahlt werden. Die Angemessenheit dieser Abfindung können die Minderheitsaktionäre in einem eigens dafür geschaffenen Spruchverfahren überprüfen lassen. Dabei ist der Börsenkurs wieder die Untergrenze, die greift, wenn eine Ertragswertermittlung nicht zu einer höheren Abfindung führt.Für die Zielgesellschaft einer möglicherweise feindlichen Übernahme ist die Verteidigung gegen ein Low Ball Offer zum Börsenpreis besonders schwierig. Meist wird sich der Investor bereits zuvor so viele Aktien gesichert haben, dass die maßgebliche 30 %-Schwelle auch dann erreicht wird, wenn nur relativ wenige Aktionäre das Angebot annehmen.Dem könnten in Zukunft allerdings die geplanten weitergehenden Offenlegungspflichten für Finanzinstrumente entgegenstehen. Dann werden zum Stakebuilding keine Cash Settled Swaps mehr zur Verfügung stehen, sodass der unbemerkte Aufbau eines Aktienpakets in der erforderlichen Größenordnung von knapp 30 % jedenfalls schwieriger wird. Gleichwohl werden Abwehrmaßnahmen der Zielgesellschaft, mit Hilfe einer Kapitalerhöhung oder ähnlicher Mittel den Investor am Erreichen einer 30-prozentigen Beteiligung zu hindern, weniger Aussicht auf Erfolg haben, als wenn der Investor z. B. eine Beteiligung von 75 % anstrebt. Außerdem ist es für Investoren oft möglich, schon im ersten Jahr nach dem Angebot ihre Beteiligung über die Börse substanziell aufzustocken. Danach sind sogar Paketerwerbe möglich, ohne bei einem höheren Preis eine Nachbesserung auszulösen.Beides zeigt das Beispiel ACS/Hochtief: Hier konnte auch der Einstieg der Staatsholding Katars bei Hochtief mit 10 % im Wege einer Kapitalerhöhung nicht verhindern, dass ACS trotz zwischenzeitiger Verwässerung auf rund 27 % am Ende dennoch die entscheidende 30 %-Schwelle “knackte”. Dem Vernehmen nach hält ACS durch Zukäufe über die Börse nunmehr gut 40 % der Hochtief-Aktien. Damit dürfte ACS in der Lage sein, trotz des fortbestehenden Widerstands von Hochtief die Besetzung des Aufsichtsrats zu bestimmen.Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine faktische Hauptversammlungsmehrheit häufig schon mit wenig mehr als 30 % der Stimmen relativ sicher ist. Deshalb hat der Gesetzgeber ja auch die 30 %-Schwelle für die Kontrollerlangung und als Auslöser für das Pflichtangebot festgelegt, obwohl “Kontrolle” üblicherweise mit dem Halten einer Mehrheitsbeteiligung gleichgesetzt wird, an deren Erreichen die Gegner des Creeping-in eine erneute Angebotspflicht knüpfen wollen.Wer das Creeping-in kritisiert, stellt also letztlich die 30 %-Schwelle in Frage. Letztere hat aber ihre Berechtigung, weil der Investor bei den meisten Gesellschaften auch ohne eine Mehrheitsbeteiligung die Zusammensetzung des Aufsichtsrats kontrollieren kann. Denn die meisten Satzungen börsennotierter Gesellschaften sehen auch für die Abwahl amtierender Aufsichtsratsmitglieder nur eine einfache Mehrheit vor. Der Aufsichtsrat hat seinerseits eine Vetomöglichkeit bei allen wichtigen Entscheidungen und ist für die Ernennung und Entlassung des Vorstands zuständig. Eine einfache Hauptversammlungsmehrheit genügt zwar nicht für Strukturmaßnahmen wie Squeeze-out (erfordert derzeit noch generell 95 %) oder Verschmelzungen und Beherrschungsverträge (erfordert jeweils 75 %). Immerhin ließe sich aber mit einer einfachen Hauptversammlungsmehrheit schon ein Zustimmungsbeschluss zu einem Delisting fassen, das aber ebenfalls ein weiteres Angebot an die Minderheitsaktionäre erforderlich macht.Etwas weniger Aufsehen hat die Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank hervorgerufen, bei der sich die Deutsche Bank einer ähnlichen Struktur bedient hat wie ACS bei Hochtief. Hinzu kam, dass sich die Deutsche Bank schon bei Abgabe ihres Angebots über Optionen und Pflichtwandelanleihen weitere Postbank-Aktien zu Preisen gesichert hatte, die wohl deutlich über dem für das Übernahmeangebot maßgeblichen und am Börsenkurs orientierten Mindestpreis lagen.In Fachkreisen wurde daher teils heftig über die Zulässigkeit des Angebotspreises diskutiert. Auch diese Kritik ist unbegründet, weil schon heute ein komplexes Regelwerk Vor- und Nacherwerbe in Zusammenhang mit einem Übernahmeangebot erfasst und nicht zu erkennen ist, dass gegen diese Regelungen bei der Postbank-Übernahme verstoßen worden wäre.Das Creeping-in durch Abgabe eines Low Ball Offer ist kein übernahmerechtlicher Missstand, sondern eine zulässige Gestaltungsstruktur bei Übernahmen. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt es daher nicht. Dies mag dem internationalen Trend widersprechen, ergibt sich aber aus den Besonderheiten des deutschen Rechts, die viele andere Rechtsordnungen nicht kennen.So stellt das deutsche Recht auch nach einer durchgeführten Übernahme zahlreiche Mechanismen zur Verfügung, die die Minderheitsaktionäre schützen. Insbesondere haben sie bei der Durchführung von Strukturmaßnahmen immer und unabhängig von dem zuvor vorgelegten öffentlichen Angebot die Möglichkeit, gegen angemessene Abfindung aus der Gesellschaft auszuscheiden. Hohe RegelungsdichteDaneben bleibt ihnen, was anscheinend zuweilen vergessen wird, natürlich auch immer die Möglichkeit, sich zu einem günstigen Zeitpunkt über die Börse von ihrer Beteiligung zu trennen. Eines parallelen Schutzes über die Pflicht des Hauptaktionärs, bei Aufstockung seiner Beteiligung weitere Pflichtangebote abzugeben, bedarf es daher nicht.Angesichts der schon bereits bestehenden Regelungsdichte und -intensität des heutigen Kapitalmarkt- und Übernahmerechts sei auch der Hinweis erlaubt, dass es vor nicht einmal zehn Jahren noch gar keine gesetzlichen Regelungen zu Übernahmen und schon gar nicht zu Pflichtangeboten gab und es schwierig ist, alle denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten gesetzlich vorab zu regeln.—-*) Dr. Stefan Widder und Dr. Dirk Kocher sind Partner im Hamburger Büro von Latham & Watkins.