Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Rupert Bellinghausen

"Keine Prozessflut in der Finanzkrise"

Strenge Voraussetzungen - KapMuG: Telekom-Verfahren ändert die Landschaft

"Keine Prozessflut in der Finanzkrise"

16 000 Kläger, 800 Anwaltskanzleien, ein Streitwert von 80 Mill. Euro: Mit dem Telekom-Prozess ist in Frankfurt der größte Anlegerprozess in der Geschichte Deutschlands in die nächste Runde gegangen. Die Kläger des Musterverfahrens erlitten hierbei einen Rückschlag. Herr Dr. Bellinghausen, was macht das Telekom-Verfahren besonders?Dieses Verfahren verändert die Prozesslandschaft in Deutschland, denn es ist der Testlauf für das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG). Das KapMuG wurde im November 2005 im Hinblick auf das Telekom-Verfahren eingeführt, um diesen komplexen Fall bewältigen zu können. Es läuft insgesamt für eine Testphase von fünf Jahren. – Wie ausgereift ist das KapMuG zum jetzigen Zeitpunkt bereits? – Das Gesetz wird sich weiterentwickeln und verändern, daher auch die Testphase. Was sich konkret verändern wird, ist jedoch noch nicht absehbar. Dazu sind derzeit einfach zu wenige Daten verfügbar, schließlich wurde bislang kein rechtskräftiges Urteil nach dem KapMuG gefällt, und es gibt nur wenige anhängige Fälle. Für unsere Arbeit spielt dies aber nur eine untergeordnete Rolle. Schließlich gehören Klagen mit einer Vielzahl von Klägern schon lange zum Prozessalltag und lassen sich mit der bestehenden Zivilprozessordnung bewältigen. – Welchen Vorteil bringt dann ein solches Musterverfahren? Bestimmte Fragen, die alle Kläger gemeinsam betreffen, werden in einem Musterverfahren vor dem zuständigen Oberlandesgericht verhandelt und nur einmal entschieden. Währenddessen ruhen alle Einzelverfahren vor dem Landgericht. Das Ziel: Massenverfahren sollen so vereinfacht werden, es ist beispielsweise nur noch ein Sachverständigengutachten zu komplexen Bewertungsfragen – wie bei der Telekom – notwendig, nicht dagegen hunderte. Das spart Geld und verhindert divergierende Entscheidungen in identischen Fällen. Nur Aspekte, die den konkreten Einzelfall betreffen, werden anschließend noch durch die Landgerichte entschieden. – Auch auf europäischer Ebene wird die Vereinheitlichung der Verfahren angestrebt. Wie soll das konkret aussehen? Die EU will ein System europaweiter Sammelklagen einführen. Die Initiativen gehen in Richtung echter Sammelklagen in Form des Opt-in. Hierbei müssen sich Kläger der Klage anschließen, es kann also niemand einen Kläger ohne sein vorheriges Einverständnis in eine anonyme Klägergruppe aufnehmen. Anders als beim Musterverfahren gibt es dann nur noch eine einzige Klage mit einer Vielzahl von Klägern. – Viele Unternehmen hierzulande fürchten sich vor Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild. Zu Recht?Tatsächlich können Anwälte in den USA durch eine Sammelklage das beklagte Unternehmen erpressen und zu einem frühen Vergleich zwingen, ohne dass die Rechtsfragen überhaupt geklärt werden. Es gibt in den Vereinigten Staaten eine regelrechte Sammelklage-Industrie, die nur an schnellen Vergleichen in fragwürdigen Fällen interessiert ist. Die Masse an Klägern und der immense Gesamtstreitwert erzeugen einen Druck, den die Unternehmen oft nicht aushalten können, ohne beispielsweise ihren Aktienkurs oder ihre Kreditwürdigkeit zu gefährden. Zudem fehlt dem US-Verfahren die Filterfunktion der deutschen Musterklage, weil nicht jeder Einzelfall vorab wenigstens kursorisch geprüft wird. – Werden sich mit dem Telekom-Prozess vergleichbare Musterverfahren in Zukunft häufen? Sicherlich wird es durch die Finanzkrise zu weiteren Verfahren kommen. Denn die Erfahrung zeigt, dass in Zeiten schwacher Kapitalmärkte die Zahl der Kapitalmarktstreitigkeiten steigt. Wer etwa an der Börse oder mit anderen Finanzinstrumenten Verluste macht, versucht so, diesen Schaden wieder auszugleichen. Mit einer Prozessflut rechnen wir aber nicht, weil die gesetzlichen Voraussetzungen recht streng sind. Nach der Testphase wird der Gesetzgeber überlegen, ob er das Musterverfahren in abgewandelter Form auch in anderen Bereichen einsetzen will, etwa im Produkthaftungsrecht oder wenn es um sogenannte Kartellschäden geht. Gerade dort bietet sich die Bündelung von Einzelinteressen an, weil jedes Kartellopfer durch die Preisabsprachen meist nur einen geringen Schaden erlitten hat, den es allein niemals einklagen würde. Die Gesamtheit der Opfer hat dagegen einen immensen Schaden erlitten, der gemeinsam leichter geltend zu machen ist. Dr. Rupert Bellinghausen ist Partner im Frankfurter Büro der internationalen Sozietät Linklaters.Die Fragen stellte Walther Becker.