Finanzen persönlich

Kidnapping-Policen sind begehrt wie nie zuvor

2008 gab es 15 000 Entführungsfälle weltweit - Mehrzahl endet mit Lösegeldzahlung - Versicherer bieten Präventionsschulungen

Kidnapping-Policen sind begehrt wie nie zuvor

Von Uwe Schmidt-Kasparek Eine ungewöhnliche Versicherungssparte profitiert von der Finanzkrise. Immer öfter kaufen derzeit insbesondere Mittelständler Versicherungsschutz gegen Entführungen. Kidnapping- und Lösegeld-Policen nehmen einen beispiellosen Aufschwung.Es passiert mitten in Europa, an der Grenze zum Saarland in einer kleinen Stadt in Lothringen. Ein deutscher Autoverkäufer für Luxuslimousinen wird unter Vortäuschung des Verkaufs eines Sammlerstücks in eine Falle gelockt. Sechs Stunden wird er geknebelt im Kofferraum gefangen gehalten. Immer wieder verlangt der Täter die PIN-Nummern der Kreditkarten. Das Opfer kann sich in einer spektakulären Aktion selbst befreien und fliehen. Der Autoverkäufer setzt den Kidnapper mit Feuerlöschschaum außer Gefecht. Solche Entführungen sind längst keine Seltenheit mehr. Entführungsrisiko steigtDas Risiko, aus finanziellen Gründen Opfer einer Entführung zu werden, ist seit den neunziger Jahren kontinuierlich gestiegen. “Allein 2008 wurden 15 000 Entführungen weltweit gezählt, wobei es sich dabei aber nur um die tatsächlich gemeldeten Fälle handelt”, sagt Ursula Heidbrink von den Nassau Versicherungen in Köln. Die Dunkelziffer liege weitaus höher. HDI-Gerling zitiert eine Untersuchung von Toribos über Entführungen in den vergangenen sieben Jahren. Danach wurden in 63 % der Fälle Lösegeld gezahlt, in 15 % wurden die Entführten freigelassen, in 5 % wurden sie befreit, in 6 % gelang den Opfern die Flucht und in 7 % der Fälle kamen sie um.Vor allem gefährdet sind Geschäftsreisende. Als besonders riskant gilt das Ausland. Derzeit extrem gefährlich sind die Länder Irak, Afghanistan, Tschad, Kongo und der Süden des Sudan. Zudem haben Geschäftsreisende in ganz Lateinamerika ein erhöhtes Risiko. In Südamerika gibt es täglich sogenannte “Express-Entführungen”. Dabei nutzen die Täter die Bank- und Kreditkarten der Opfer und heben so viel Geld wie möglich von den Konten ab. Danach wird das Opfer – meist weitgehend unverletzt – wieder freigelassen. “Auf Geschäftsreisen sollte man daher nur eine auf einige 1 000 Dollar limitierte Firmenkreditkarte mitführen”, rät Oliver Schneider, ehemaliger Bundeswehroffizier des Kommandos Spezialkräfte (KSK), der heute für die Sicherheitsfirma Result-Group in München (www.result-group.com) tätig ist. Für Heldentum, wie sie der Autoverkäufer aus Singen bei seiner Selbstbefreiung bewies, sei in solchen lebensgefährlichen Situationen eigentlich kein Platz. “Andernfalls riskiert man für eine PIN-Nummer die Finger”, warnt Schneider.Immer öfter treffen Unternehmer für sich und ihre Mitarbeiter aber nun Vorsorge. Sie schließen eine Kidnapping-Versicherung ab, die im Ernstfall alle Kosten, also auch ein Lösegeld, übernimmt. Auf dem deutschen Markt ist das Produkt noch relativ jung. Aufsichtsbehörden und Polizei befürchteten früher, durch eine Lösegeldversicherung könnten Entführungen und Erpressungen geradezu provoziert werden. Außerdem sah man die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden gefährdet, da die Opfer bei der Lösegeldzahlung durch einen Versicherer wenig Interesse an der Aufklärung des Verbrechens hätten. Aufgrund der Erfahrungen ausländischer Versicherungsunternehmen mit Lösegeldversicherungen haben sich derartige Bedenken jedoch als unbegründet erwiesen. Daher ließ die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) – auch unter dem Druck der internationalen Märkte – frühere moralische Bedenken fallen und erlaubte den Schutz in Deutschland zum 1. Juni 1998. Reflex der KriseDer aktuelle Verkaufsboom ist ein direkter Reflex der Finanzkrise. “Derzeit nehmen Unternehmer jeden nur möglichen Auftrag an. Die Sicherheitslage im Auftragsland ist da erst einmal Nebensache”, sagt Hans-Hermann Scheel, Experte der Allianz Firmenversicherung in München. Wer aber seine Mitarbeiter zu Vertragsabschluss oder Montage in Krisenregionen schickt, muss für weitgehende Sicherheit zu sorgen. “Hier gilt ganz klar die Fürsorgepflicht des Unternehmers”, sagt Peter Paul Geppert von HDI-Gerling in Hannover. Zudem werde den Unternehmen immer mehr bewusst, wie wichtig es sei, auf den Ernstfall vorbereitet zu sein. Immerhin bietet die Police deutlich mehr als nur reinen wirtschaftlichen Schutz. Kunden erhalten mit der Versicherung eine umfangreiche Präventionsschulung frei Haus. Diese Schulung halten spezielle Krisenmanager ab. Eine Erstberatung durch einen solchen Experten ist bei Abschluss einer Kidnapping-Police sogar behördlich vorgeschrieben. Mit dem Abschluss unterwirft sich das Unternehmen somit einer besonderen Sicherheitsdisziplin. Für den Chef und einige Mitarbeiter gibt es ein präventives Risikotraining. “Wir unterrichten, wie man sich sicher im Ausland bewegt, einen Krisenplan erstellt und unterstützen im Ernstfall die Verhandlungsführung”, erläutert Krisenmanager Schneider. Ausgefeilte Verhandlungstechniken sollen Spannungen entschärfen und für eine unversehrte Befreiung der Opfer sorgen. Aktiv werden die Krisenexperten schon dann, wenn ein Drohbrief eingeht. Vermögende in GefahrDoch nicht nur für Geschäftsreisende wird der Schutz immer wichtiger. Auch in Deutschland lokal verwurzelte Unternehmerpersönlichkeiten fürchten immer öfter, dass sie oder ihre Familien Opfer von Gewalt werden könnten. “Solche Unternehmer sind in ihrer Region sehr bekannt. Sie sind mit der Region verbunden, treten öffentlich auf, auch als Spender, eröffnen lokale Volksfeste, und die Kinder gehen ohne Vorsorgemaßnahmen ins nahe gelegene Gymnasium”, so Geppert. Jährlich gebe es in Deutschland mindestens einen solchen versuchten Entführungsfall, schätzt Geppert. Bekannt werden die Taten meist nicht. Zudem sind hohe Lösegeldforderungen mittlerweile keine Seltenheit mehr. “Sie können zweistelligen Millionenbeträge erreichen”, sagt Expertin Heidbrink. Diskretion großgeschriebenBeim Abschluss einer Kidnapping- und Lösegeld-Police wird Diskretion großgeschrieben. So soll vermieden werden, dass allein durch den Versicherungsschutz potentielle Täter angelockt werden. In der Regel sind nur wenige Mitarbeiter eingeweiht. “Bei Interesse an dem Produkt sprechen wir in der Regel vorab mit dem Unternehmer, Geschäftsführer oder Vorstand. Dabei prüfen wir, ob eine vertrauensvolle und vor allem diskrete Zusammenarbeit möglich ist”, erläutert Allianz-Manager Scheel. Der Chef müsse schon das nötige Fingerspitzengefühl für die sensible Versicherung beweisen.Die Kosten der Kidnapping-Police hängen von der Zahl der versicherten Personen, den besuchten Ländern und der Zahl der Reisen ab. Als Kriterien für die Versicherbarkeit und die Prämienhöhe werden auf der AIG-Homepage der Industriezweig, der Umsatz, der Sitz der Gesellschaft und die Reisegewohnheiten der Angestellten genannt. Neben der Risikoschulung übernimmt die Versicherung – gezahlte oder abhanden gekommene Lösegelder, die Kosten für Wachpersonal und Kommunikationsmittel wie Fangschaltungen, das Honorar für ärztliche Behandlung, plastische und kosmetische Operationen, die persönlichen Vermögensschäden des Versicherten, alle notwendigen Reisekosten. Bis 50 Mill. EuroDie Deckungssumme liegt beispielsweise bei der AIG-Police bei 50 Mill. Euro – obwohl die Gesellschaft selbst darauf hinweist, dass es in den vergangenen vier Jahren auch einige Lösegeldforderungen jenseits von 50 Mill. Euro gegeben habe. Bei der Police der Nassau Versicherungen kann als Option eine unbegrenzte Versicherungssumme vereinbart werden.Geleistet wird bei Entführung und Erpressung, also auch bei Androhung von Körperverletzung, Sachbeschädigung und Freiheitsberaubung. Abgedeckt sind teilweise auch von Kriminellen verursachte Betriebsunterbrechungen der IT-Systeme und Produktverunreinigungen insbesondere in der Lebensmittelbranche.”Auch das Haftungsrisiko des Unternehmers gegenüber seinen Mitarbeitern ist abgedeckt”, sagt Scheel. Für Entführungsopfer, wie beispielsweise die Techniker der Firma Cryotec aus Sachsen, die 2006 im Irak 99 Tage in Geiselhaft saßen, würde die Versicherung somit alle Kosten, also auch eine möglicherweise notwendige psychologische Behandlung übernehmen. Neben Firmen, Inhabern, Angestellten können auch Privatpersonen versichert werden. Abgespeckte LösungEine abgespeckte Lösung für Geschäftsreisende bietet neuerdings die Europäische Reiseversicherung im Rahmen ihrer “Dienstreiseversicherung Individual” an. Die Bausteinpolice, die typische Reiseversicherungen wie eine Auslandskranken- oder Gepäck-Schutz enthält, zahlt bei dem Baustein “Versicherung bei Entführung auf Dienst- und Geschäftsreisen” Tagegeld pro Tag der Entführung, Beraterkosten und Mehrkosten der Rückreise.