Marktmissbrauch im Fokus der EU-Kommission
Von Lutz Krämer und Lars Teigelack *)Die Europäische Kommission hat nach eingehenden Konsultationen Mitte Oktober 2011 zwei Rechtsakte vorgestellt, mit denen sie das Vorgehen gegen Marktmissbrauch EU-weit vereinheitlichen und verschärfen will. Mit dem Entwurf der Verordnung über Insidergeschäfte und Marktmanipulation will sie die bisherige Marktmissbrauchsrichtlinie ablösen und europaweit gültige Spielregeln schaffen. Der Entwurf einer Richtlinie zu strafrechtlichen Sanktionen für Insidergeschäfte und Marktmanipulation soll die bisherige “Zahnlosigkeit” einiger EU-Jurisdiktionen bei der Sanktionierung beseitigen und auch insoweit ein “level playing field” schaffen. Beide Entwürfe befinden sich derzeit im Abstimmungsprozess mit dem Europäischen Parlament.Der Verordnungsentwurf setzt einen deutlich erkennbaren Trend in der Kapitalmarktgesetzgebung in Europa fort: Brüssel vertraut nicht mehr auf die Mitgliedsstaaten, die mehr oder weniger detaillierten Rahmenvorgaben von Richtlinien umzusetzen. Nach der Ratingverordnung und der geplanten Leerverkaufsverordnung will die Kommission nun weite Teile des Wertpapierhandelsrechts im Wege unmittelbar geltenden Rechts selbst erlassen. Das deutsche Wertpapierhandelsgesetz wird damit ab Inkrafttreten der Verordnung in ganz erheblichen Teilen obsolet.Betroffen sind in der Hauptsache Insider- und Marktmanipulationsverbote, aber auch prominente Regelungsbereiche wie die Ad-hoc-Publizität oder die Regeln zu Eigengeschäften von Führungskräften (sog. Directors’ Dealings). Neu sind die detaillierten Vorgaben für – weitgehende – Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der nationalen Aufsichtsbehörden.Im Vergleich zur derzeit gültigen Marktmissbrauchsrichtlinie soll der Anwendungsbereich der Verordnung künftig erweitert sein. So werden in Zukunft auch Emissionszertifikate als Finanzinstrumente eingestuft und damit dem Marktmissbrauchsregime unterworfen – bisher ein deutscher Sonderweg. Außerdem sollen zumindest die Insider- und Manipulationsverbote für alle auf einer sog. MTF (Multilateral Trading Facility) oder OTF (Organized Trading Facility) gehandelten Finanzinstrumente und nicht nur für den geregelten Markt gelten. Gleiches gilt für bestimmte außerbörslich (over the counter) gehandelte Finanzinstrumente, die sich auf die MTF/OTF auswirken können, und für Geschäfte auf Waren-Spotmärkten, die sich auf die dazugehörigen Finanz- und Derivatemärkte auswirken können. Auch in Bezug auf Warenmärkte war das deutsche Recht bereits einen Schritt vorausgegangen. Schließlich sollen in Zukunft sowohl versuchter Insiderhandel als auch versuchte Marktmanipulation verfolgt werden können. Insiderverbote erweitertIm Insiderrecht spaltet der Entwurf den bisher einheitlichen Begriff der Insiderinformation auf. Zukünftig sollen Insiderverbote gelten, bevor die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht eingreift. Dazu will die Kommission eine Art “Insiderinformation light” definieren. Deren Merkmal ist, dass die Information (i) in der Regel nicht öffentlich bekannt ist, aber (ii) von einem verständigen Investor, der regelmäßig an dem betreffenden Markt und mit dem betreffenden Finanzinstrument handelt, als relevant für die Bedingungen von Geschäftsabschlüssen in dem betreffenden Finanzinstrument betrachtet würden. Informationen mit erheblichem Kursbeeinflussungspotenzial sind weiterhin ad hoc zu veröffentlichen. Als “Insiderinformation light” kommen etwa der (jeweilige) Stand von Vertragsverhandlungen oder die Möglichkeit, dass demnächst Finanzinstrumente platziert werden, in Frage.Neben dem Erwerb und der Veräußerung eines Insiderpapiers unter Verwendung einer Insiderinformation verbietet der Verordnungsentwurf, bereits erteilte Aufträge zu ändern oder zu stornieren, wenn der Marktteilnehmer die Information nach Auftragserteilung erlangt hat. Dagegen findet sich keine ausdrückliche Aussage zu der besonders praxisrelevanten und kürzlich vom Bundesgerichtshof dem EuGH im “Fall Schrempp” vorgelegten Frage, ob auch Zwischenschritte auf dem Weg zur Verwirklichung eines mehraktigen Geschehens eigenständige Insiderinformationen sein können.Im Recht der Ad-hoc-Mitteilungen will die Kommission einen neuen Befreiungstatbestand einführen. Zusätzlich zur Möglichkeit der Emittenten, sich wie bisher im eigenen Interesse selbst von der Veröffentlichungspflicht zu befreien, soll ihn künftig die zuständige Aufsichtsbehörde befreien können. Voraussetzung ist, dass die Informationen systemrelevant sind und der Aufschub der Veröffentlichung im öffentlichen Interesse liegt. Neben den auslegungsbedürftigen Begriffen “Systemrelevanz” und “öffentliches Interesse” wird damit die Stabilität der Finanzmärkte, wie schon im Rahmen des Entwurfs der Leerverkaufsverordnung, als neues Schutzgut Einzug in die europäische Finanzmarktgesetzgebung halten.Erstmals sind außerdem algorithmischer Handel und Hochfrequenzhandel in den Blickpunkt der EU gerückt. Der Entwurf verbietet diese Handelsformen zwar nicht, identifiziert aber bestimmte Verhaltensweisen im algorithmischen Handel als Marktmanipulation, wenn der Marktteilnehmer keine echte Handelsabsicht hatte.Die sog. Directors’ Dealings sollen künftig bis zu einer “Freigrenze” von 20 000 Euro pro Kalenderjahr (statt bisher 5 000 Euro) nicht zu melden sein. Andererseits sollen nunmehr auch die Verpfändung und das Verleihen von Aktien und Geschäfte von Vermögensverwaltern der Führungskräfte oder der nahestehenden Personen offengelegt werden, selbst wenn der Vermögensverwalter ausschließlich im eigenen Ermessen handelt.Ob diese drei Geschäftsarten dem Normzweck entsprechend Indikatorwirkung für die Anleger entfalten können, darf bezweifelt werden. Die Meinung einer Führungskraft zum eigenen Unternehmen wird sich kaum je kausal in der Ermessensentscheidung ihres Vermögensverwalters widerspiegeln. ErmittlungsbefugnisseDie Kommission will die nationalen Aufsichtsbehörden mit erheblichen Ermittlungsbefugnissen ausstatten – insbesondere sollen sie Privaträume betreten und dort Dokumente beschlagnahmen dürfen. Die deutsche Entwurfsfassung knüpft diese Befugnis an die vorherige Zustimmung der “zuständigen Justizbehörde”. In Deutschland muss dies der Richtervorbehalt für Wohnungsdurchsuchungen, und nicht die Zustimmung einer Justizbehörde als Teil der Exekutivgewalt sein; die englische Fassung spricht präziser von der “competent judicial authority”.Auf Sanktionsebene bleibt der Verordnungsentwurf hinter der unbedingten Vereinheitlichung aus dem materiellrechtlichen Teil zurück. Er legt zwar die zu sanktionierenden Verstöße fest und statuiert verwaltungsrechtliche Mindestsanktionsbefugnisse, scheut sich jedoch, konkrete Sanktionen festzuschreiben. Der Entwurf schafft daher noch kein sog. level playing field. Allerdings soll künftig die Veröffentlichung aller Verstöße und ergriffenen Maßnahmen europaweit Pflicht sein. AbschreckungDer Richtlinienvorschlag setzt auf Abschreckung und verpflichtet die Mitgliedstaaten, bestimmte vorsätzliche Verstöße gegen die Insider- und Marktmanipulationsverbote unter Strafe zu stellen. Der Weg über eine Verordnung war der Kommission nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union allerdings verwehrt. Für das deutsche Recht ist diese Kriminalisierung ohnehin nichts Neues; der Regelungsbedarf auf europäischer Ebene erschließt sich dagegen schnell, wenn man bedenkt, dass in manchen Mitgliedsstaaten die Marktmanipulation derzeit nur mit einem Bußgeld von maximal 75 000 Euro geahndet werden kann. Nach dem derzeitigen Stand des Entwurfs werden die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit bekommen, ihre Rechtsvorschriften an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen.Die Kommissionsentwürfen zielen auf eine weitere Europäisierung des Wertpapierhandelsrechts. Konzeptionell sollen einige deutsche Regelungen nunmehr europaweit Anwendung finden. Interessant ist der Vorschlag, eine Ebene des Insiderrechts “unterhalb” der Ad-hoc-Ebene zu etablieren. Die konkrete Umsetzung ist indessen nicht überzeugend; in der verbleibenden Zeit sollte hier noch nachgearbeitet werden. Die Kommission nutzt einmal mehr die Finanzkrise, um Kompetenzen an sich zu ziehen und beschleunigt die Vereinheitlichung der Finanzmarktgesetzgebung. Für grenzüberschreitend tätige Emittenten und Berater muss dies keine schlechte Nachricht sein.—-*) Dr. Lutz Krämer ist Rechtsanwalt und Partner, Dr. Lars Teigelack ist Rechtsanwalt und Associate im Frankfurter Büro der internationalen Anwaltssozietät White & Case.