Moderne Makroökonomik braucht Finanzgeschichte
Die Krise hat es gezeigt: Analysten, Aufseher und Anleger tun gut daran, in die Vergangenheit zu schauen, wenn sie die Zukunft besser verstehen wollen. Während Ökonomen vor der Finanzkrise überwiegend auf kurzfristige Zeitreihen und Daten aus ein bis zwei Jahrzehnten fixiert waren, interessiert sich die Volkswirtschaftslehre inzwischen wieder stärker für historische Perspektiven. Wichtige wirtschaftspolitische Neuerungen der vergangenen Jahre – etwa die Einführung der makroprudenziellen Aufsicht – basieren auf Einsichten der Finanzgeschichte. Alarmsignale vor Finanzkrisen Einen wichtigen Anstoß dazu gab mein Forschungsartikel “Credit Booms Gone Bust” mit Alan M. Taylor, der im Jahr 2012 in der American Economic Review erschien und mittlerweile zu den meistzitierten Aufsätzen aus dem vorigen Jahrzehnt gehört. Was war daran neu? Auf der Grundlage von langfristigen Reihen zur Kreditvergabe der Banken zeigen wir in dem Aufsatz, dass Finanzkrisen oft auf Phasen rapiden Kreditwachstums folgen. Diese Einsicht ist zur Grundlage für die Einführung sogenannter makroprudenzieller Überwachung geworden. Dabei sollten die Aufseher Übertreibungen auf Immobilienmärkten, die häufig auf Phasen lockerer Geldpolitik folgen und in Banken- oder Finanzkrisen münden (“Betting the House”, mit Òscar Jordà und Alan M. Taylor, 2015), besonders im Blick haben.Dies gilt umso mehr, da die Korrelation zwischen mangelnder Finanzstabilität und einer exzessiven Kreditvergabe im Immobiliengeschäft in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat und Rezessionen, die auf derartige Finanzkrisen folgen, nachweisbar stärker sind und länger anhalten. Dafür spielt eine Rolle, dass sich der Anteil der Hypothekenkredite in den Bankbilanzen im Verlauf des 20. Jahrhunderts verdoppelt hat, was mit einem steilen Anstieg der Immobilienkreditvergabe an private Haushalte einherging (“The Great Mortgaging”, mit Òscar Jordà and Alan M. Taylor, 2016). Die Rolle des EigenkapitalsBemerkenswert ist auch, dass für die Entstehung von Finanzkrisen die Höhe der Eigenkapitalquote von Banken keine wichtige Rolle spielt. Mehr Haftung führt nicht automatisch zu vorsichtigerem Verhalten. Der Eigenkapitalanteil der Banken ist allerdings mit ausschlaggebend dafür, wie tief die auf die Krise folgende Rezession ausfällt und wie schnell sie überwunden wird (“Bank Capital Redux: Solvency, Liquidity, and Crisis”, mit Òscar Jorda, Björn Richter, Alan M. Taylor, 2017).Ein Blick in die Geschichte hilft auch bei anderen zentralen Finanzfragen der Gegenwart – etwa bei der Suche nach renditeträchtigen Anlagemöglichkeiten in einem vom demografischen Wandel und der Niedrigzinspolitik geprägten Umfeld, oder bei der Suche nach den Ursachen von ungleicher Vermögensverteilung. Unsere Untersuchung der realen Renditen von 1870 bis 2015 für verschiedene Anlageklassen (“The Rate of Return on Everything” mit Òscar Jordà, Katharina Knoll, Dmitry Kuvshinov, Alan M. Taylor, Quarterly Journal of Economic 2019) hat gezeigt, dass die momentanen negativen Zinsen und Renditen keine Ausnahmeerscheinung sind. Ungewöhnlich sind im historischen Vergleich eher die hohen Zinsen für sichere Anlagen in den 1980er und zu Beginn der neunziger Jahre gewesen. Tatsächlich bewegt sich in der Langfristperspektive der sichere reale Zins um den heutigen Wert.Es bestätigt sich zudem, dass riskantere Anlagen auf lange Sicht die besseren Renditen bringen. Aktien und Immobilien sind die renditeträchtigsten Anlagen und werfen im Durchschnitt des betrachteten Zeitraums eine reale Rendite von 7 % (Aktien) beziehungsweise 8 % (Wohnimmobilien) ab. Hinzu kommt, dass die Renditen der riskanteren Assetklassen weniger schwanken als die der sicheren Anlagen. Von den höheren Kapitalrenditen, die die Wachstumsrate der Wirtschaft übersteigen, profitiert aber nur der Teil der Bevölkerung, der in riskante Anlagen investieren kann. Dadurch können sich die Verteilungsungleichgewichte vertiefen. Kapitalexport wirft Fragen aufEinen genaueren Blick haben wir aus der wirtschaftshistorischen Perspektive jüngst auf einen meist vernachlässigten Tatbestand deutscher Anlagepolitik geworfen (“Exportweltmeister”, mit Franziska Hünnekes und Christoph Trebesch, 2019): Die Deutschen sind der weltweit größte Netto-Exporteur von Ersparnissen und investieren im Jahr rund 350 Mrd. Euro im Ausland – was etwa dem Bundeshaushalt eines Jahres entspricht. Diese Relation ist auch im historischen Vergleich mit führenden Wirtschaftsnationen einzigartig. Vor dem Hintergrund, dass es auf heimischem Boden einen Investitionsstau gibt – Stichwort Verkehrswege oder Telekommunikation und Wohnungsmarkt – wirft dieser gewaltige Kapitalexport Fragen auf. Das gilt umso mehr, als wir zeigen können, dass erstens die langfristigen Renditen auf deutsches Auslandsvermögen im internationalen Vergleich deutlich niedriger sind, dass sie zweitens niedriger sind als die inländischen Renditen und dass sie drittens keine diese Abschläge rechtfertigende Risikodiversifikation bieten. Zur Erforschung der Ursachen dieser Missverhältnisse ist auch die wirtschaftshistorische Forschung gefragt.Diese Beispiele zeigen, dass Finanzgeschichte als wichtige Teildisziplin der ökonomischen Forschung betrachtet werden muss. Ihre Methoden werden seit der Finanzkrise als wichtige Grundlage für mathematisch-modellorientierte Erklärungsansätze und ihre Daten als unverzichtbare Ressource für die Forschung angesehen. Das Institut für Bank- und Finanzgeschichte (IBF) setzt sich seit 50 Jahren für die Pflege finanzhistorischer Quellenbestände ein, hat einen festen Platz in der deutschen Forschungslandschaft und trägt mit seiner Plattform den interdisziplinären Dialog zur finanzhistorischen Forschung. Mit der Digitalisierung historischer Quellen eröffnen sich enorme Möglichkeiten für die Auswertung historischer Daten, für die es der vom IBF geförderten Zusammenarbeit von Ökonomen und Historikern bedarf. Mehr denn je brauchen wir heute einen Fürsprecher der Bewahrung und Auswertung finanzhistorischer Quellenbestände und eine Plattform für die Kommunikation neuester Forschungsergebnisse. Moritz Schularick, Professor für Makroökonomik an der Universität Bonn