ANLAGEPRODUKTE - GASTBEITRAG

Nicht alle Wege führen nach Rom

Börsen-Zeitung, 15.3.2012 Mit der neuen Finanzmarktrichtlinie MiFID II soll insbesondere der Vertrieb von Finanzprodukten wie Zertifikaten noch stärker reguliert werden. Der Weg der belgischen Finanzaufsicht, Vertriebsbeschränkungen bzw. Verbote von...

Nicht alle Wege führen nach Rom

Mit der neuen Finanzmarktrichtlinie MiFID II soll insbesondere der Vertrieb von Finanzprodukten wie Zertifikaten noch stärker reguliert werden. Der Weg der belgischen Finanzaufsicht, Vertriebsbeschränkungen bzw. Verbote von bestimmten strukturierten Produkten für Privatanleger einzuführen, wäre ein denkbar schlechtes Vorbild. Der belgische Regulierungsansatz ist nämlich nicht nur wegen des Kriteriums der Komplexität technisch falsch. Vielmehr verstößt die Zuflucht zu einem pauschalen Verbot schon als solche gegen bewährte Grundsätze des europäischen Verbraucher- und Anlegerschutzrechts. Nur eine Regulierung der Transparenzanforderungen führt zum Ziel.Wer sich mit dem Thema Anlegerschutz und dessen Zielen beschäftigt, dem wird es nicht schwerfallen, der ebenso einfachen wie treffenden Aussage von Jean-Paul Servais zuzustimmen. “Ziel ist es, das Vertrauen der Privatanleger in den Finanzsektor wiederherzustellen”, stellte der Vorsitzende der belgischen Aufsichtsbehörde Financial Services and Markets Authority (FSMA) in einem Interview mit einer Nachrichtenagentur fest.Bekanntlich besteht häufig Einigkeit über ein richtiges Ziel. Welcher Weg allerdings zum Ziel führt, ist hingegen oftmals strittig. Das belgische Vorgehen der Vertriebsbeschränkungen bzw. Produktverbote ist jedenfalls eine Sackgasse. Regulierte SelbstregulierungUnter dem Deckmantel der Freiwilligkeit hat die belgische Finanzaufsicht die Vertriebsbanken in Belgien zunächst dazu gedrängt, im Rahmen eines Moratoriums auf den Vertrieb von “besonders komplexen” Finanzprodukten an Privatanleger zu verzichten. Aus diesen eher unfreiwilligen Produktbeschränkungen ist nun ein Verbot geworden. Ob der Vertrieb eines Finanzprodukts zulässig ist oder nicht, soll von seiner “besonderen Komplexität” abhängen. Nach Auffassung der belgischen Finanzmarktaufsicht sind strukturierte Produkte – dazu werden auch viele Fonds oder Kapitallebensversicherungen gezählt – dann “besonders komplex”, wenn der Basiswert nicht “zugänglich”, die Strategie “übermäßig komplex”, die Berechnungsformel “übermäßig komplex”, oder Kosten, Marktrisiko und Marktwert nicht transparent sind. Je mehr Strukturierungselemente ein Finanzprodukt enthält, desto “komplexer”ist es. Dieser Regulierungsansatz führt unmittelbar zu zwei Fragen. Erstens: Warum muss ein Privatanleger überhaupt vor einem “komplexen” Finanzprodukt geschützt werden? Und zweitens: Wie und anhand welcher nachprüfbaren und objektiven Kriterien wird die “besondere” Komplexität eines Finanzproduktes festgestellt?Die Antwort auf die erste Frage fällt leicht: Sie kann getrost verneint werden. Anleger müssen nur vor Risiken geschützt werden, die sie nicht erkennen können und dementsprechend beim Kauf eines Finanzprodukts nicht freiwillig übernehmen. Die Annahme der belgischen Finanzmarktaufsicht, dass “Komplexität” Risiko mit sich bringt bzw. gegenüber dem Anleger verschleiert – und mehr Komplexität dementsprechend mehr Risiko bedeutet – ist aber schlicht falsch.”Komplexität” dient vielmehr dazu, Marktrisiken des Basiswerts zu reduzieren und das Finanzprodukt dem Risikoprofil des Anlegers anzupassen. Insbesondere können Absicherungsstrategien, die in einzelnen Produkten enthalten sind, sehr komplex sein. Gleichzeitig minimieren sie aber das Risiko zum klaren Vorteil des Anlegers. Den Anleger interessiert nur, wie das Finanzprodukt auf bestimmte Veränderungen des Marktumfeldes reagiert, nicht aber, durch welche (und wie viele) einstrukturierte Optionen dieses Verhalten erreicht wird. Dazu kommt noch, dass Finanzprodukte mit identischem Verhalten auf durchaus verschiedene Weise – mit unterschiedlichen Strukturierungselementen – konstruiert werden können.Um ein praktisches Beispiel zu nennen: Ein einfaches Kapitalschutz-Zertifikat, das aus einer Nullkuponanleihe und einer Call-Option (oder aus dem Basiswert und einer Put-Option) besteht, ist für den Privatanleger optionspreistechnisch wohl schwer nachvollziehbar. Dagegen ist die Funktionsweise des Produkts sehr einfach verständlich. Es hat eine sehr hohe Risiko- und Renditetransparenz: Der Anleger erhält am Ende der Laufzeit jedenfalls – außer im Fall der Insolvenz der Emittentin – mindestens den Nennwert des eingesetzten Kapitals zurück. Im Übrigen profitiert er von der Wertentwicklung des Basiswerts.Ein weiteres Beispiel für ein aus Kundensicht sehr transparentes und einfach nachvollziehbares, von den enthaltenen Produktelementen aber sogar höchst komplexes Finanzprodukt ist übrigens der klassische Bausparvertrag mit seinen zahlreichen impliziten Zinsoptionen.Nimmt man bestimmte Aussagen der belgischen Finanzaufsicht ernst, dann müssen Banken in Belgien ihren privaten Kunden risikoarme Zertifikate mit hundertprozentigem Kapitalschutz wegen ihrer konstruktionsbedingten “besonderen Komplexität” vorenthalten , während sie ihnen Knock-out-Papiere mit dem Risiko eines Totalverlustes ohne Weiteres verkaufen dürfen, da diese – mangels einstrukturierter Absicherungsmechanismen – nicht “besonders komplex” sind.Komplexität als solche ist eben nun einmal gerade nicht risikobegründend oder -erhöhend und damit “gefährlich”, sondern wirkt im Gegenteil häufig risikomindernd. Eine schematische Anknüpfung von Produktverboten an das Kriterium “Komplexität” ist daher schon im Ansatz verfehlt. Ganz zu Recht ist daher Komplexität derzeit nach europäischem und deutschem Recht nur ein Anknüpfungsmerkmal für Aufklärungspflichten. In der Diskussion um Produktverbote, die zunehmend auch auf europäischer Ebene geführt wird, insbesondere bei der europäischen Wertpapieraufsicht ESMA, überdeckt das Thema Produktkomplexität das eigentlich für den Privatanleger sehr viel relevantere Thema “Risiko des Produkts”. Willkür in der PraxisSo bleibt nur noch die zweite Frage offen, nämlich die nach der Handhabung der Produktverbote in der Praxis der belgischen Finanzaufsicht. Wer darauf Antworten sucht, den mag folgendes Beispiel nachdenklich stimmen: Finanzprodukte auf Gold nicht “besonders komplex” seien, solche auf Silber hingegen schon. Das ist absurd, überrascht aber nicht. Der Begriff der Komplexität lässt sich eben nicht sinnvoll und allgemeingültig definieren. Was “komplex” oder gar “besonders komplex” ist, hängt immer vom Wissensstand des Beurteilers ab und ist damit letzten Endes stets subjektiv. Es gibt keinen nachvollziehbaren Maßstab dafür, ab welcher Anzahl von Strukturierungselementen ein Finanzprodukt “besonders komplex” ist – jede solche Festlegung ist schlicht Willkür.Eine schematische Abgrenzung am Merkmal der “besonderen Komplexität” führt unter Umständen zu dem geradezu widersinnigen Ergebnis, dass der Berater dem Kunden genau dasjenige Produkt vorenthalten muss, das nach dem Ergebnis seiner Bedarfs- und Risikoanalyse für ihn am besten geeignet ist. Das fordert natürlich die Fantasie der Strukturierer geradezu heraus, denn schließlich soll der Kunde das bekommen, was er braucht, und nicht das, was die mit seiner Situation überhaupt nicht vertraute Aufsicht für ein “vertriebsgeeignetes” Produkt hält. Da allerdings niemand das Risiko auf sich nehmen will, dass ein in den Vertrieb genommenes Produkt nachträglich verboten wird, mutiert das anhand eines untauglichen und nicht sinnvoll anwendbaren Maßstabes formulierte Produktverbot in der belgischen Praxis zu einem Genehmigungsvorbehalt.Jedes einzelne neue Produkt muss vor dem Vertrieb “zumindest informell” von der Aufsicht freigegeben werden. Das ist in der Praxis nicht sinnvoll zu leisten und führt zudem auch zu falschen Erwartungen der Anleger. Die diesbezügliche Genehmigungspraxis der belgischen Finanzaufsicht ist auch ein schlagendes Beispiel für die fehlende Geeignetheit des selbst gewählten Maßstabes der “Komplexität”: Was heute noch als nicht “besonders komplex” durchgeht, kann nächste Woche durchaus als “besonders komplex” beanstandet werden.Aus gutem Grund darf deshalb stark angezweifelt werden, dass das belgische Vorgehen zu mehr Vertrauen und Schutz privater Anleger führt. Wenn es Probleme gibt, so liegen diese fast immer bei der Beratung. Nämlich dann, wenn einem Anleger ein Produkt empfohlen wird, das für ihn nicht geeignet ist. Fehler, die hier begangen werden, haben nichts mit der Qualität und dem generellen Nutzen von strukturierten Produkten zu tun. Jede Produktempfehlung muss der Risikoneigung, den Renditewünschen und der Markterwartung des Anlegers entsprechen. Und das ist in Deutschland auch in den jeweiligen Beratungsprotokollen zu dokumentieren.Eine gute Regulierung erleichtert Anlegern und Beratern, ein Produkt zu verstehen und die mit ihm verbundenen Risiken so weit wie möglich einzuschätzen. Dabei muss nicht jeder alle mathematischen Formeln verstehen und nachvollziehen können. Das ist wie beim Autofahren. Der Fahrer kann und muss auch nicht alle technischen Details kennen. Er sollte aber das Fahrzeug sicher bedienen und steuern können – muss er dafür Ingenieur sein?Als geeigneter Ansatzpunkt für eine gute Regulierung empfiehlt sich deshalb die Transparenz eines Finanzprodukts, also das Vorliegen und die Verfügbarkeit aller wesentlichen Informationen, die – anders als die Komplexität – objektiv überprüfbar und damit für eine Produktregulierung geeignet ist. Transparenz kann unterteilt werden in Transparenz des Basiswerts, Nachvollziehbarkeit der Struktur anhand einfacher Basiswertszenarien, Bewertung des Produkts (und damit Kostenschätzung), Risiko- und Bonitätsermittlung sowie Liquiditätseinschätzung. Gerade Zertifikate erfüllen in jeder Hinsicht diese Transparenzanforderungen, insbesondere weiß der Investor, in welchen Basiswert er investiert. Der Entwurf der EU-Finanzmarktrichtlinie Mifid II bzw. der Mifir sieht im Übrigen vor, dass Produktverbote unter bestimmten Voraussetzungen möglich sind. Derartige Produktverbote können jedoch vor dem Hintergrund der Grundrechte und Grundfreiheiten nur in absoluten Ausnahmefällen eingreifen. Diese Voraussetzungen dürften praktisch kaum jemals vorliegen.Vorbild für eine sinnvolle Regulierung sollte deshalb der deutsche Weg sein. Die politischen Entscheider und auch die BaFin setzen auf Produkttransparenz und nicht auf Produktverbote. Es gibt die Pflicht zu Erstellung von Produktinformationsblättern mit allen wesentlichen Anlegerinformationen. Diese klären den Anleger auch über Chancen und Risiken eines Produkts sowie die mit der Anlage verbundenen Kosten auf. Auch sind Szenarioanalysen integraler Bestandteil und fördern das Produktverständnis. Unabhängige Produktbewertungen und berechnete Produktkennzahlen können zudem die Anlageentscheidung erleichtern. Dieses “Informationparadigma” – als Gegensatz zum Verbotsparadigma – entspricht der bewährten Tradition des europäischen Verbraucher- und Anlegerschutzrechts.Viele Kunden entscheiden selbst, welche Finanzprodukte sie kaufen, und sie entscheiden sich immer wieder für Zertifikate, weil sie damit gute Erfahrungen gemacht haben. Mit ihrem Ansatz, diese Entscheidungsfreiheit einzuschränken bzw. gänzlich auszuschließen, stehen die belgischen Bestrebungen auch im Widerspruch zum europäischen Verbraucherschutzrecht. Dieses geht seit jeher vom Grundsatz des mündigen Verbrauchers aus und gewährt der Information und Aufklärung klar den Vorrang vor Moratorien und Verboten. Letztlich führt nur eine Regulierung der Transparenz zum Ziel, nicht aber hilflose Produktverbote.