RECHT UND KAPITALMARKT

Pandemiegesetzgebung trifft Privatautonomie

Weitgehende Eingriffe in Rechte und Pflichten der Vertragsparteien - Helfen die Maßnahmen auch langfristig?

Pandemiegesetzgebung trifft Privatautonomie

Von Bernd Geier *) Die Pandemiegesetzgebung greift weitgehend in die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien und damit die Privatautonomie ein. Mit privatrechtsgestaltender Wirkung werden Ansprüche suspendiert und angepasst. Im Vordergrund steht dabei vor allem das “Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht”.Ziel der Gesetzgebung ist es, pandemiebedingte Risiken aus Verträgen umzuallokieren, die zu einem Zeitpunkt abgeschlossen wurden, zu dem für die breite Öffentlichkeit die Wirkungen der Pandemie noch nicht absehbar waren. Der Gesetzgeber überschreibt dabei Mechanismen des Zivilrechts, wie zum Beispiel die Regeln zur Störung der Geschäftsgrundlage oder das Recht auf außerordentliche Kündigung. Aber hilft die Gesetzgebung auch langfristig und nachhaltig? Um das beantworten zu können, ist es erforderlich, einen genaueren Blick in die Details der Regelungen zu werfen. VerweigerungsrechteDas Gesetz greift in Dauerschuldverhältnisse der Daseinsvorsorge, in Miet- und Pachtverhältnisse sowie in Darlehensverträge ein: Zahlungen aus Dauerschuldverhältnissen der Daseinsvorsorge (zum Beispiel Strom- und Gaslieferungsverträge) können bis zum 30. Juni 2020 verweigert werden, wenn der Vertrag vor dem 8. März 2020 geschlossen wurde und der angemessene Lebensunterhalt (inklusive des Lebensunterhalts unterhaltsberechtigter Angehöriger) sonst coronabedingt gefährdet wäre. Ähnliches gilt für Kleinstunternehmer in Bezug auf deren Erwerbstätigkeit. Mieter und Pächter, die pandemiebedingt nicht in der Lage sind, Miete/Pacht im Zeitraum vom 1. April 2020 bis 30. Juni 2020 für Grundstücke/Räume zu leisten, können bis zum 30. Juni des Jahres 2022 deswegen nicht gekündigt werden.In Verbraucherdarlehensverträgen werden Rückzahlung, Zins- und Tilgungsleistung zwischen dem 1. April und dem 30. Juni 2020 mit Eintritt der Fälligkeit für drei Monate gestundet, wenn pandemiebedingte Einnahmeausfälle vorliegen, die Zahlung (vor dem Hintergrund des Lebensunterhalts) unzumutbar ist, und der Vertrag vor dem 15. März 2020 geschlossen wurde. Flankierend werden Kündigungsrechte für den Stundungszeitraum ausgeschlossen, auch wegen wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse oder der Werthaltigkeit einer Sicherheit. Durch Rechtsverordnung kann die Stundungswirkung über Verbraucher hinaus auch auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU), inklusive Kleinstunternehmen, erstreckt werden. Anreize für BankenKommt eine einvernehmliche Regelung für den Zeitraum nach dem 30. Juni 2020 nicht zustande, verlängert sich die Vertragslaufzeit um drei Monate. Die jeweilige Fälligkeit der vertraglichen Leistungen wird entsprechend hinausgeschoben. Die Regelung setzt für Banken damit Anreize, sich mit ihren Darlehensnehmern zeitnah in Verbindung zu setzen und eine Einigung herbeizuführen. Ob ab dieser Einigung noch eine staatliche Stundungsanordnung mit entsprechender bankaufsichtsrechtlicher Privilegierung vorliegt, ist hingegen bislang ungeklärt.Die neuen Schuldnerrechte bestehen nicht, wenn die Nichtzahlung für den Gläubiger unzumutbar wäre. Im Bereich der Daseinsvorsorge besteht dann ein Sonderkündigungsrecht des Schuldners. Alle Maßnahmen können durch Rechtsverordnung auf den 30. September 2020 erweitert werden.Damit greift die Pandemiegesetzgebung auf den ersten Blick – wie das allgemeine Zivilrecht mit seinen Rechtsinstituten – lediglich einzelfallbezogen. Der Anwendungsbereich hängt an den individuellen Umständen des Schuldners. Das Vorliegen dieser schuldnerbezogenen Voraussetzungen wird jedoch – anders als im allgemeinen Zivilrecht – gesetzlich vermutet. Lediglich im Bereich der Miete/Pacht ist eine Glaubhaftmachung der Voraussetzungen erforderlich, zum Beispiel durch Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung. Dies hat zur Folge, dass sich Schuldner faktisch recht einfach auf die neuen Regeln “berufen” können. Lediglich bei falscher eidesstattlicher Versicherung drohen direkt strafrechtliche Konsequenzen. Im Übrigen sieht das Gesetz weder eine ausdrückliche Mitteilung des Schuldners noch einen speziell zu stellenden Antrag vor. Lockerung im InsolvenzrechtGläubiger bemerken die Wirkungen daher womöglich erst durch fehlende Zahlungseingänge. In Gesellschaftsformen organisierte Gläubiger können jedoch auch in Krisenzeiten nicht einfach “großzügig” sein: So sind Geschäftsführer und Vorstände weiterhin gebunden, im Interesse des Unternehmens zu handeln – und damit gehalten, Forderungen grundsätzlich auch durchzusetzen.Dann stellt sich die Frage, wie der Gläubiger die Vermutung widerlegen oder zumindest erschüttern kann und ob gegebenenfalls auch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast greifen. An dieser Stelle wird sich entscheiden, welche praktische und wirtschaftliche Bedeutung die neuen Regeln erlangen.Darüber hinaus suspendierte die Pandemiegesetzgebung die Pflicht zur Stellung von Insolvenzanträgen bis zum 30. September 2020 für Unternehmen, die ab dem 1. März 2020 pandemiebedingt insolvent werden und bei denen die Aussicht besteht, dass sie künftig wieder zahlungsfähig werden. Sowohl die Pandemiebedingtheit der Krise als auch die erneute Erreichung der Zahlungsfähigkeit wird vermutet, wenn das Unternehmen zum 31. Dezember 2019 zahlungsfähig war. Solche Unternehmen dürfen – wie solvente Gesellschaften – weiterhin am Rechtsverkehr teilnehmen, und Geschäfte mit diesen Unternehmen sind (weitgehend) insolvenzfest. Durch Rechtsverordnung kann die Regelung bis zum 31. März 2021 erstreckt werden. ZeitgewinnDie Vorschrift verschafft Zeit, überbrückt eine temporäre Zahlungsunfähigkeit. Nicht geschützt werden “Zombieunternehmen”, bei denen keine Aussicht besteht, dass sie sich nach der Krise wieder erholen. Die damit verbundene Prognose ist jedoch aktuell nur schwer zu treffen. Auch stellt niemand verbindlich fest, ob ein Unternehmen in den Genuss der Regelung kommt oder nicht.Insoweit hilft auch die gesetzliche Vermutung nur bedingt: Wird im Nachgang tatsächlich ein Insolvenzverfahren eröffnet, stellt sich regelmäßig die Frage, ob zuvor getroffene Annahmen tatsächlich zutreffend waren. Zwar schließt nicht jede sich später anschließende Insolvenz eine ursprünglich positive Prognose aus; jedoch ist davon auszugehen, dass der Insolvenzverwalter der Prognosethematik nachgehen wird: Lagen die Voraussetzungen für die Suspendierung des Insolvenzantrags nicht vor, bestanden auch die damit verbundenen gesetzlichen Privilegierungen nicht, insbesondere zur Insolvenzfestigkeit und auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Teilnahme am Geschäftsverkehr. Dann wird sich regelmäßig die Frage stellen, inwieweit die Fehleinschätzung ex ante bereits erkennbar war, ob insoweit gegebenenfalls von Fahrlässigkeit oder gar bedingtem Vorsatz ausgegangen werden kann. HandlungsoptionenSowohl die Geschäftsleitung des betroffenen Unternehmens als auch Vertragspartner müssen sich daher mit dem Prognoserisiko beschäftigen. Die Schaffung zusätzlicher Liquiditätspuffer und die Erweiterung von Kreditlinien des Schuldners helfen an dieser Stelle. Darüber hinaus kann insbesondere die Gewährung von KfW-Hilfen, länderspezifischen Hilfen oder die Inanspruchnahme des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zielführend sein: Die Gewährung solcher Stützen ist typischerweise an eine eigenständige Fortführungsprognose geknüpft und kann insoweit Evidenz bieten.Im Übrigen ist eine kautelarjuristische Absicherung essenziell für beide Seiten, zum Beispiel durch spezielle Zusicherungen, Informationspflichten und Kündigungsrechte sowie die Vereinbarung von Sicherheiten. So bietet sich an, soweit zulässig, eine Berichtspflicht zur Liquiditätssituation in Neuverträgen zu vereinbaren und sich die Voraussetzungen der gesetzlichen Vermutungsregelung zusichern zu lassen sowie diese Voraussetzung auch zumindest zu plausibilisieren. *) Prof. Dr. Bernd Geier ist Partner von Bryan Cave Leighton Paisner und Professor für Wirtschaftsrecht, Bank-/Kapitalmarktrecht und Regulierung.