RECHT UND KAPITALMARKT

Rechtsregime der SE muss vereinfacht werden

Europäische und nationale Vorschriften gelten nebeneinander - Vorteil: Freiheit von Mitbestimmung - Freudenberg in neuer Form

Rechtsregime der SE muss vereinfacht werden

Von Mark Binz *)Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) hat sich bisher nur zögerlich durchgesetzt, obwohl sie gerade Familienunternehmen durch das einstufige Board-System sowie durch die Optimierung oder sogar gänzliche Vermeidung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat interessante Vorteile bieten kann.Die Weinheimer Unternehmensgruppe Freudenberg, mit 5,4 Mrd. Euro Umsatz und rund 300 Gesellschaftern eines der bedeutendsten deutschen Familienunternehmen, will sich vom 1. Januar 2012 an eine neue Unternehmensform geben: die der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Derzeit ist die Holding als Kommanditgesellschaft KG organisiert mit vier familienfremden persönlich haftenden Gesellschaftern (Komplementäre). Die Rechtsform der KG schützt Freudenberg bislang vor den Publizitätspflichten des HGB, aber auch vor der Pflicht zur Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrates. Offenbar will Freudenberg nun die Ära angestellter Komplementäre beenden und in eine der Größe des Unternehmens adäquatere Rechtsform wechseln, die wohl auch noch börsenfähig sein soll, um sich alle Optionen offenzuhalten. Ernüchternde BilanzIm Falle einer AG müsste aber ein 16-köpfiger Aufsichtsrat gebildet werden, der zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen wäre. Demgegenüber bietet die SE den einzigartigen Vorteil, die Mitbestimmungsfreiheit beizubehalten, sodass die heutigen zwölf Mitglieder des Gesellschafterausschusses die künftigen zwölf Aufsichtsratsposten allein besetzen können. Dieser Aspekt dürfte im Hause Freudenberg den Anstoß für die Wahl der SE gegeben haben, da andere Argumente (Wegfall von Zwischenholdings, Reduzierung um 150 Beteiligungsgesellschaften) auch ohne Rechtsformwechsel umsetzbar wären.Trotz des prominenten Beispiels Freudenberg und der erst im April beschlossenen Umwandlung der Puma AG in eine SE sieht die Bilanz der mit großen Vorschusslorbeeren gestarteten Europäischen Aktiengesellschaft bislang eher ernüchternd aus: Bis 1. Mai 2011 gaben sich in Deutschland lediglich 165 Unternehmen diese Rechtsform – davon 23 als Vorratsgesellschaften. Somit haben bisher nur 142 operativ tätige Firmen die Umwandlung in eine SE vollzogen. Das sind weniger als zwei Prozent aller bestehenden rund 8 000 Aktiengesellschaften in Deutschland. Unsere Analyse zeigt folgende Strukturmerkmale:- Von den 142 operativ tätigen SEs sind 25 börsennotiert. Darunter befinden sich mit Allianz, BASF, MAN und Fresenius auch vier prominente Dax-Konzerne. Diese Leuchtturmunternehmen prägen die Wahrnehmung und lassen die SE in Deutschland weiter verbreitet erscheinen, als sie es ist.- Insgesamt weisen nur 15 deutsche SEs mehr als 1 Mrd. Euro Umsatz aus. 2010 sind mit Bilfinger Berger und BP Europa lediglich zwei Schwergewichte neu hinzugekommen. Jenseits der börsennotierten Unternehmen wird die SE vornehmlich von mittelgroßen und kleineren Firmen gewählt.- In Deutschland sind SE-Gründungen seit 2005 möglich. 2006 wurden sechs gegründet, 2007 waren es 17 und 2008 dann 29. 2009 ging die Zahl auf 24 zurück. 2010 zählten wir 45 SE-Gründungen, 2011 bis 1. Mai elf.- 67 SEs, also knapp die Hälfte, entschieden sich für das monistische Prinzip, bei dem – ähnlich der angelsächsischen Praxis – ein Verwaltungsrat, der aus geschäftsführenden Direktoren und sonstigen Verwaltungsratsmitgliedern besteht, die operative Leitung und Kontrolle auf sich vereint.Deutschland weist im europäischen Vergleich einen hohen Anteil an den heute rund 800 SEs auf. Dies hängt mit der Mitbestimmungsthematik zusammen. Deutschland kennt die intensivste Form der Arbeitnehmer-Mitbestimmung auf Betriebs- wie auf Unternehmerebene in Europa. Besonders die bei mehr als 2 000 Arbeitnehmern vorgeschriebene paritätische Mitbestimmung, bei der dem Aufsichtsrat auch Gewerkschaftsvertreter angehören, wird von vielen Familienunternehmen wegen des hohen bürokratischen Aufwandes, aber auch aus Angst um ihre Entscheidungsautonomie kritisch gesehen, ja sogar gefürchtet. Mit einer SE kann die unternehmerische Mitbestimmung optimiert oder sogar ganz vermieden werden: Wer heute mitbestimmungsfrei ist, sei es – wie Freudenberg – kraft Rechtsform, sei es wegen Unterschreitung der für die sogenannte Drittelparität erforderlichen Mindestzahl von 500 Arbeitnehmern, kann diesen Status quo durch Umwandlung in eine SE für alle Zeit “einfrieren”. Entsprechendes gilt für eine AG mit beispielsweise 1 500 Mitarbeitern, die über einen zu einem Drittel mit Arbeitnehmern besetzten Aufsichtsrat verfügt: Nach Umwandlung in eine SE bleibt es auch dann bei der Drittelparität, wenn das Unternehmen die magische Zahl von 2 000 Mitarbeitern überschreiten sollte.Und selbst wer heute schon, wie seinerzeit die Allianz, über einen zwanzigköpfigen mitbestimmten Aufsichtsrat verfügt, hat sehr gute Chancen, im Verhandlungswege wenigstens eine Reduzierung der Aufsichtsratszahl auf zwölf zu erreichen. Pfiffigerer WegSteht beim Wunsch nach einer SE – wie meist – die Mitbestimmungsoptimierung im Vordergrund, erweist sich in der Praxis die grenzüberschreitende Verschmelzung einer AG gegenüber der SE-Lösung allerdings häufig als der pfiffigere Weg. Derartige Verschmelzungen wurden EU-weit durch die Richtlinie 2005/56/EG ermöglicht, die der deutsche Gesetzgeber im April 2007 in nationales Recht umgesetzt hat. Diese Lösung ist in der Praxis kaum bekannt, obwohl man sich damit trotz derselben Mitbestimmungs-Privilegien die aufwendige Umwandlung in eine SE ersparen kann.Aus welchen Gründen ist der SE bislang der große Durchbruch in Deutschland versagt geblieben? Ins Gewicht fällt wohl, dass die Rechtslage bei der SE komplexer und komplizierter ist als bei der klassischen AG. Bei ihr sind nämlich neben dem Aktiengesetz auch noch die SE-Verordnung der EU und das deutsche SE-Ausführungsgesetz zu beachten. Bei Gründung müssen ferner mit den Arbeitnehmervertretern aus allen Landesgesellschaften Verhandlungen stattfinden und viele bürokratische Hürden überwunden werden. Auch mangelt es vielfach an praktischen Erfahrungen. Kleinere und mittlere Unternehmen warten deshalb derzeit ab, wie die Europäische Privatgesellschaft, kurz: die Europa-GmbH ausgestaltet werden wird. Viele Familienunternehmen, für die wir die SE-Variante geprüft haben, schrecken zudem vor dem hohen Kostenaufwand zurück, der bei größeren Unternehmen schnell in die Millionen gehen kann.Auf der anderen Seite sprechen für die SE folgende Vorteile:- die einfachere Sitzverlegung innerhalb der EU, auch wenn eine derartige Sitzverlegung gerade bei Familienunternehmen – schon aus steuerlichen Gründen – wenig wahrscheinlich ist;- das einstufige Board-System ist in Deutschland zwar kaum verbreitet und verwischt die Verantwortlichkeiten zwischen Vorstand und Aufsichtsrat; es könnte aber gerade für solche Familienunternehmer reizvoll sein, die maßgebenden Einfluss auf das unternehmerische Geschehen nehmen möchten, denen aber eine Vorstandstätigkeit zu zeitintensiv ist;- die Firmierung als SE signalisiert Internationalität nach außen und kann damit die weltweite Expansion eines Unternehmens oder einer Marke fördern.Der entscheidende Vorteil der SE für Familienunternehmen ist und bleibt aber die Vermeidung oder Optimierung der Mitbestimmung. 27 VariantenErst kürzlich hat die Europäische Kommission für 2012 eine Novellierung der SE-Statuten angekündigt. In der Tat wäre es wünschenswert, das unübersichtliche Rechtsregime, dem die SE unterliegt und bei dem Europarecht und nationales Recht nebeneinander gelten, zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Damit würden alle SEs in Europa, von denen es derzeit 27 verschiedene gibt, weitgehend den gleichen, im Idealfall denselben Rechtsregeln unterliegen. Freilich um den Preis, dass dann das bewährte deutsche Aktienrecht auf die deutsche SE nicht einmal mehr, wie jetzt, subsidiär anwendbar wäre.—-*) Prof. Mark Binz ist Seniorpartner der Kanzlei Binz & Partner.