Recht und Kapitalmarkt

Reparaturbedarf bei Umsetzung der Übernahmerichtlinie

Neue Zurechnungsregel schafft Probleme - Massenhafte Befreiungsanträge müssen vermieden werden

Reparaturbedarf bei Umsetzung der Übernahmerichtlinie

Von Klaus-Dieter Stephan *) In den nächsten Tagen wird das Gesetz zur Umsetzung der Europäischen Übernahmerichtlinie in Kraft treten. Das Gesetz bringt einige interessante Neuerungen. Wirklich grundlegende Änderungen sind für die Praxis nicht zu erwarten. Oder doch, und vielleicht aus unerwarteter Richtung? Erst kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsprozesses hat der federführende Finanzausschuss eine weit reichende Änderung von § 30 Abs. 1 Nr. 1 WpÜG vorgeschlagen. Zum Verständnis der Änderung ist ein Blick auf die Gesetzeslage erforderlich: Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) definiert das Erreichen der Schwelle von 30 % der Stimmrechte an einer deutschen börsennotierten Gesellschaft (Zielgesellschaft) als “Erlangen der Kontrolle”. Daran knüpft sich die Verpflichtung, den Kontrollerwerb zu veröffentlichen und allen verbliebenen Aktionären das Angebot zum Erwerb ihrer Aktien zu machen. Für Unternehmen und Aktionäre ist es von eminenter Bedeutung, Klarheit darüber zu haben, wann ein Pflichtangebot zu machen ist. Bereits an das Versäumen der Veröffentlichung knüpft das Gesetz die Sanktion des Verlustes der Rechte aus den Aktien. Zahlreiche FragenFür die Berechnung der Schwelle von 30 % sieht das Gesetz zusätzlich zum unmittelbaren Aktienbesitz verschiedene Zurechnungen vor. Am wichtigsten ist die Zurechnung innerhalb von Konzernen. Bisher wurden die von Tochtergesellschaften gehaltenen Stimmrechte an der Zielgesellschaft der Muttergesellschaft zugerechnet, nicht aber umgekehrt. Dies führte dazu, dass innerhalb eines Konzerns nur sehr wenige Unternehmen die Zielgesellschaft kontrollierten. Nach der neuen Regelung werden Stimmrechte im gesamten Konzern zugerechnet. Für Zwecke des WpÜG wird in Zukunft so getan, als habe jedes einzelne Konzernunternehmen die gleiche (nämlich die konzernweit aufaddierte) Beteiligung an der Zielgesellschaft. Die gute Nachricht zu Beginn: Umstrukturierungen im bestehenden Konzern bedürfen damit in Zukunft keiner Befreiung mehr, weil der Konzern insgesamt Kontrolle hat. § 36 Nr. 3 WpÜG ist für diese Fälle obsolet geworden. Die Regelung wirft für die Praxis jedoch eine ganze Reihe von Fragen auf:1. Müssen die nach bisheriger Rechtslage nicht an der Kontrolle beteiligten Konzerngesellschaften jetzt die “Erlangung der Kontrolle” veröffentlichen und ein Pflichtangebot für die Zielgesellschaft vorlegen? 2. Müssen in Zukunft, wenn ein Konzern Kontrolle über eine Zielgesellschaft erwirbt, in der Veröffentlichung sämtliche Konzernunternehmen genannt werden, und was passiert, wenn eines vergessen wird?3. Muss in Zukunft, wenn ein bereits kontrollierender Konzern irgendwo auf der Welt eine neue Tochter erwirbt, wegen Erlangung der Kontrolle der neuen Tochter über die Zielgesellschaft eine Befreiung vom Pflichtangebot beantragt werden? Zu 1:”Altfälle”, die vor Inkrafttreten der Neuregelung Konzerngesellschaften waren, aber denen die Kontrolle bisher nicht zugerechnet wurde, müssen kein Pflichtangebot abgeben. Bei Inkrafttreten des WpÜG bestand schon aus verfassungsrechtlichen Gründen einhellig die Auffassung, dass Altfälle vom Pflichtangebot befreit sind. Dieser Gedanke trifft auch auf die jetzige Erweiterung des Kreises kontrollierender Unternehmen zu. Durch eine bloße Rechtsänderung kann kein Pflichtangebot begründet werden. Anträge auf Befreiung vom Pflichtangebot sind rechtlich nicht erforderlich und hätten nur vorsorglichen Charakter. Damit ist auch die Frage zu verneinen, ob anlässlich der Erweiterung der Zurechnungsregeln Veröffentlichungen vorgenommen werden müssen. Zu 2: Die erstmalige Erlangung der Kontrolle ist für jeden “Bieter” nach § 35 Abs. 1 WpÜG zu veröffentlichen. Dabei wäre es künftig wenig sinnvoll, sämtliche Konzernunternehmen mit Firma und Sitz zu benennen. Die Zahl kann in die Hunderte gehen. Die Gefahr unvollständiger Meldungen wäre enorm, die Sanktion – bis hin zu Dividendenverlust und Stimmverlust – unverhältnismäßig. Bisher stellte sich das Problem nicht, weil nur wenige Konzernunternehmen in die Zurechnung eingeschlossen waren. Es muss in Zukunft zulässig sein, sich ergänzend zur namentlichen Nennung derjenigen Konzerngesellschaften, die bereits nach der bisherigen Zurechnungsregel Kontrolle hatten (einschließlich der Konzernmutter), auf die abstrakt umschriebenen weiteren Konzerngesellschaften zu beziehen. Eine Klarstellung des Gesetzgebers ist angezeigt. Dieselbe Frage stellt sich auch für die Angebotsunterlage (§ 2 Nr. 1 WpÜG-Angebotsverordnung).Hinsichtlich des gleichen Kontrollerwerbs kann jedes Konzernunternehmen das Pflichtangebot mit Wirkung für alle abgeben. Diese “befreiende Wirkung” des Pflichtangebots entspricht bisheriger Praxis und muss sich auf sämtliche Konzernunternehmen beziehen, selbst wenn sie in der Mitteilung über das “Erlangen der Kontrolle” nicht namentlich aufgeführt waren. Ein anderes Verständnis der Regelung wäre nach der Erweiterung der Zurechnung eine unverhältnismäßige Belastung der Unternehmen.Zu 3: Eine dem Zweck des WpÜG verpflichtete Auslegung sollte die Schlussfolgerung vermeiden, dass dem Konzern künftig neu beitretende Unternehmen “Kontrolle erlangen”. Man muss sich vor Augen halten, was das praktisch bedeutete: Die A-AG hält 35 % an der börsennotierten B-AG. Die A-AG hat eine Tochter fünften Grades in Brasilien, die dort für lokale Zwecke eine Vorratsgesellschaft kauft. Es kann nicht sinnvoll sein, dass die brasilianische Vorratsgesellschaft ein Pflichtangebot zum Erwerb der restlichen 65 % der B-AG abgeben muss. Der Hinweis auf die Möglichkeit der Befreiung führt nicht wirklich weiter: Massenhafte Befreiungsanträge aus solchem Anlass sind weder den Unternehmen noch der BaFin zumutbar. Die Lösung kann hier nur skizziert werden: Durch die neue Konzernzurechnung erlangt der Begriff des “Erlangens der Kontrolle” eine neue Dimension. Kontrolle hat der Konzern in seiner jeweiligen Zusammensetzung. Das Hinzutreten weiterer Konzerngesellschaften führt deshalb nicht zum “Erlangen der Kontrolle”. Vorsichtige Naturen werden vielleicht doch lieber einen Befreiungsantrag stellen. Befreiung wäre in diesem Fall (wenn überhaupt) wegen “konzerninterner Umstrukturierung” nach § 36 Nr. 3 WpÜG zu erteilen. Diese Befreiung ist nach richtiger (wenn auch bestrittener) Auffassung nicht fristgebunden. Die im Ermessen der BaFin stehende (und innerhalb von sieben Tagen ab Kontrollerwerb zu beantragende) Befreiung nach § 37 WpÜG passt hier nicht. Ein weiteres Problem kann hier nur angedeutet werde. Zur Bestimmung der Reichweite der Zurechnung im Konzern von oben nach unten wird neuerdings der Begriff der “kontrollierenden Person” verwendet. Damit wird nicht etwa implizit auf die “Kontrolle” im Sinne des Haltens von 30 % oder mehr der Stimmrechte verwiesen. Die Gesetzesmaterialien beziehen sich vielmehr auf das Begriffspaar Mutter-/Tochterunternehmen und auf den europarechtlich definierten Begriff der kontrollierten und kontrollierenden Personen. Unter kontrollierten und kontrollierenden Personen ist damit im Kern nichts anderes zu verstehen als Tochter- und Mutterunternehmen. Ein unterschiedliches Verständnis der Begriffspaare, wozu die (geringen) Abweichungen der europarechtlichen von der deutschen Definition Anlass geben könnten, würde nur zu Verwirrung und inkonsistenten Ergebnissen führen. Die Praxis sollte für die “kontrollierende Person” spiegelbildlich die Definition des “Tochterunternehmens” im WpÜG zugrunde legen. Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber wäre hier hilfreich. Klärung nötigFazit: Die spät eingeführte Neuerung bei der Zurechnung im Konzern sollte bei nächster Gelegenheit in ihren Voraussetzungen und Folgen gesetzlich geklärt werden. Europarechtliche Hindernisse gibt es dafür nicht. Bis dahin besteht Anlass zur Hoffnung, dass die BaFin sich einer pragmatischen Handhabung nicht verschließen wird. Sollte es darüber je zum Streit kommen, werden hoffentlich die Gerichte nach der alten Regel verfahren, dass nicht sein kann, was (auch aus Rechtsgründen) nicht sein darf.*)Dr. Klaus-Dieter Stephan ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Hengeler Mueller in Frankfurt.