Asset Management - Gastbeitrag

Risikomanager sollten auch Anlegerverhalten beachten

Börsen-Zeitung, 16.6.2009 2008 war das Jahr der Ernüchterung. Die Grenzen der Diversifikation wurden Investoren recht drastisch vor Augen geführt. So drastisch, dass viele am Sinn diversifizierter Portfolios ernsthaft zu zweifeln beginnen. Was nützt...

Risikomanager sollten auch Anlegerverhalten beachten

2008 war das Jahr der Ernüchterung. Die Grenzen der Diversifikation wurden Investoren recht drastisch vor Augen geführt. So drastisch, dass viele am Sinn diversifizierter Portfolios ernsthaft zu zweifeln beginnen. Was nützt ein Fallschirm, der gerade dann nicht aufgeht, wenn man ihn am nötigsten braucht?Es gilt aber weiterhin ohne Diskussion: Eine breite Vermögensstreuung ist die einzige Möglichkeit, sich vor singulären Risiken zu schützen. Die Vorstellung vieler Anleger, mit einer Handvoll Aktien ein diversifiziertes Portfolio wie zum Beispiel den Dax mittelfristig zu schlagen, sollte mithin kritisch überdacht werden. Selbst in langfristigen Bullenmärkten (1983- 2006) hätten vier von zehn zufällig ausgewählten Aktien eine negative Rendite erzielt. Bereits im TalmudDeshalb empfahl schon der Talmud vor 2 000 Jahren, das Vermögen zu streuen, und nannte drei Assetklassen: Geschäfte (heute: Aktien), liquide Anlagen (Obligationen) und Immobilien. Die Empfehlung lautete, die drei Assetklassen gleich zu gewichten. Dieser naive Zugang zur Diversifikation – jede Assetklasse hat das gleiche Gewicht, ohne dass weitere Theorien oder Daten einfließen – wurde um 1960 von den Schöpfern der modernen Portfoliotheorie Harry Markowitz, Andrew Roy, William Sharpe und James Tobin auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt.Nach 40 Jahren Kapitalmarkt- bzw. Risikoforschung muss heute ernüchternd festgestellt werden, dass die meisten der mathematisch zum Teil anspruchsvollen Risikoansätze nicht den gewünschten (risikoadjustierten) Performancebeitrag in der Praxis leisten konnten. Selbst über lange Zeithorizonte ist eine naive Diversifikation à la Talmud ähnlich erfolgreich wie mathematisch ausgefeilte “ex-ante-optimale Portfolios”. Das Hauptproblem ist dabei: Anleger können ihre langfristige Anlagestrategie in Stress-Situationen nicht durchhalten. Sowohl die Wissenschaft als auch das Marketing oder die Consultants einer strategischen Asset Allokation propagieren den langen Investmenthorizont. Die Erzielung attraktiver Renditen erfordert eine hohe Gewichtung risikobehafteter Anlageklassen wie Aktien. Dies ist allerdings unvereinbar mit den kurzfristigen Zielsetzungen wie zum Beispiel der Vermeidung von Verlusten auf Jahresbasis.Besonders im vergangenen Jahr waren die kurzfristigen Schwankungen zu groß für die meisten Investoren. Unzufrieden mit der Gesamtperformance ihrer Portfolios und von Angst getrieben, verkauften sie unsystematisch die am stärksten gefallenen Positionen.Dieses Phänomen spiegelt sich in fast allen Kundenportfolios wieder: Allein diese manuellen Eingriffe in die ursprünglich langfristig ausgerichtete Portfoliostrategie führte zu einem spürbaren Renditenachteil. In fast allen Anlagesegmenten liegt die tatsächlich erzielte Kundenrendite deutlich hinter der theoretischen (zeitgewichteten) Rendite, die ein Anleger mit identischem Risikoprofil – jedoch ohne Eingriff – erzielt hätte.Die Lösung könnte sein, lange und kurze Anlagehorizonte abzustimmen. Ein langer Investmenthorizont wird von der Theorie propagiert. In der Praxis sind Anleger eher selten, die ihre Investitionsentscheidung auf zehn Jahre ausrichten und durchhalten können. Viel häufiger ist bei real existierenden Investoren der Anlagehorizont von zehn mal ein Jahr anzutreffen. Dies führt zu einer komplett unterschiedlichen Interpretation von Zeit und Risiko. Während die Wahrscheinlichkeit negativer Renditen zum Ende eines Anlagehorizonts unbestreitbar abnimmt, steigt das Risiko, während der Laufzeit mindestens einmal eine negative Rendite zu erleiden. Negative RenditenEin funktionierendes Risikomanagement muss deshalb die Wahrscheinlichkeit negativer Renditen sowohl zum Ende der Laufzeit als auch innerhalb des Investmenthorizonts betrachten und steuern. Sofern absolute Verlustgrenzen eine Rolle spielen, müssen diese konsequent im Portfoliokontext verfolgt werden. Risikomanagement in der Praxis sollte deshalb mehr als nur reine Diversifikation sein.Mit der realen Enttäuschung vieler Kapitalmarktanleger sollten deshalb auch das Konzept der statischen Benchmark-Ausrichtung sowie “Buy-and-hold-Strategie” hinterfragt werden, da viele Anleger diese Strategie langfristig nicht durchhalten können. Alternativen existieren jedoch in der reinen Lehre selten: Weder die Moderne Portfoliotheorie (MPT) noch das Capital Asset Pricing Model (CAPM) sind in der Lage, die passenden Lösungen für die verständlichen Bedürfnisse der Anleger bereitzustellen.Kapitalmärkte, die als offene Systeme im ständigen Informationsaustausch mit anderen Märkten stehen, können keinen Gleichgewichtszustand der Preise erreichen. Analog zu biologischen Ökosystemen sind sie in ständiger Dynamik und reagieren empfindlich auf geringste Veränderungen der Rahmenbedingungen. Zudem sind die Marktteilnehmer lernfähige Menschen, die mit ihrem Handeln sogenannte Rückkopplungseffekte bewirken.Eine monothematische Sicht auf den Kapitalmarkt – eventuell noch gefährlich aggregiert in einer einzelnen Risikokennzahl – ist deshalb falsch, weil einfältig und höchstens für Marketingzwecke geeignet. Wichtig ist vielmehr, einen Überblick über allgemeine Verhaltensmuster zu bekommen. Welche Investmentstrategien werden umgesetzt, welche Bewertungsansätze sind aktuell erfolgreich, und wer kauft welche Titel?Risikomanagement sollte sich demzufolge auf die Analyse der Marktstruktur fokussieren und Hinweise geben, wann mögliche Phasenübergänge bevorstehen (zum Beispiel Überbewertungen, hoher Leverage, Marktliquidität). Da selbstorganisierende kritische Systeme vor dem Phasenübergang hohe strukturelle Homogenitäten aufweisen, sind gerade Märkte, die von sehr wenigen Strategien der Marktteilnehmer bestimmt werden, am riskantesten. Nachhaltiges SystemEin nachhaltiges, krisentaugliches Risikomanagementsystem beinhaltet also folgende Faktoren: Es berücksichtigt sowohl den langen als auch den kurzen Investmenthorizont des Anlegers und begrenzt Verluste klar. Trotzdem muss es Spielraum für Gewinne bei steigenden Märkten bieten. Die Benchmark sollte nicht als sklavischer Ausgangspunkt der Portfoliobildung, sondern nur zum Performancevergleich dienen, während der Fokus auf der Erzielung positiver Gesamterträge für den Anleger liegt.Mit diesen Bemühungen im Risikomanagement können viele zukünftige negative Kapitalmarktentwicklungen vermieden werden. Abrupte Kursrückschläge sind jedoch damit nie vollständig auszuschließen, sie gehören einfach zu den Eigenschaften selbstorganisierender dynamischer Systeme.