Recht und Kapitalmarkt

Sell-outs sind für den Minderheitenschutz ungeeignet

Unternehmen beklagen unausgewogene verfahrensrechtliche Situation beim Zwangserwerb ihrer Aktien

Sell-outs sind für den Minderheitenschutz ungeeignet

Von Hans-Ulrich Wilsing und Silja Maul *)Mehrfach stand das Sell-out auf der Tagesordnung im Europäischen Rat, bislang ohne besondere Beachtung. Doch unlängst sprach sich eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten gegen die Einführung der neuen Regelung aus. Noch ist die Sache aber nicht vom Tisch: Sollte die EU-Kommission trotz des massiven Drucks weiter an ihren Vorschlägen festhalten, müssten die Mitgliedstaaten einheitlich gegen die Einführung des Sell-out stimmen, um seine Streichung zu erzwingen – Frankreich, Schweden und Dänemark stimmten bislang aber dafür. ErwerbsverpflichtungDie Kommission hatte in der Kapitalrichtlinie ein Recht für Minderheitsaktionäre einer börsennotierten Gesellschaft vorgeschlagen, vom Mehrheitsgesellschafter (mit einem Anteilsbesitz von 90 % bis 95 % des Grundkapitals) den Erwerb ihrer Anteile verlangen zu können. Das Sell-out soll die Minderheit bei möglichen Interessenkollisionen wegen eines dominierenden Gesellschafters schützen. Wenn die Minderheit keine Chance auf ausreichende Mitsprache sehe, solle sie den Mehrheitsaktionär zum Kauf ihrer Anteile zwingen können. Vergleichbare Vorschriften haben in Europa bislang nur Dänemark, Schweden und Frankreich.In vielen Mitgliedstaaten bekannt ist dagegen das – ebenfalls auf EU-Ebene vorgeschlagene – Squeeze-out, mit dem Mehrheitsaktionäre unter gleichen Voraussetzungen die Anteile ihrer Minderheitsaktionäre gegen ein angemessenes Entgelt aufkaufen können. Damit sollen Gesellschaften die Unternehmensführung vereinfachen und Kosten reduzieren können (z. B. keine Durchführung von Hauptversammlungen, keine Berichtspflichten). Diesen Zielen wird Vorrang vor der Beeinträchtigung der Mitgliedschaftsrechte eingeräumt, zumal bei der Minderheitsbeteiligung die Vermögensanlage im Vordergrund steht und eine alternative Kapitalanlage leicht möglich ist. Sell-out und Squeeze-out verfolgen unterschiedliche Ziele; sie bedingen sich nicht und sind getrennt zu bewerten.Die Unternehmen wehren sich vehement gegen das Sell-out und die mit der Erwerbsverpflichtung verbundenen Folgen, die Doppelregulierung der Minderheitenbelange, die unausgewogene verfahrensrechtliche Situation und insbesondere die zwingende Zahlung von Abfindungsleistungen, obwohl die erforderlichen Mittel nicht vorhanden oder bereits anderweitig verplant sind. Der Zwangserwerb ist per se ein schwerwiegender Eingriff, der nicht auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit basiert und für dessen Rechtfertigung überzeugende Gründe vorliegen müssen. Diese Vorgaben erfüllen die europäischen Vorgaben nicht. Ausreichender SchutzIn faktischen Konzernverhältnissen, die regelmäßig auf Mehrheitsbesitz aufbauen, wird der Schutz der Aktionäre und Gläubiger durch einen präventiven Schutz der beherrschten Gesellschaft erreicht. Der Mehrheitsgesellschafter unterliegt im Grundsatz einem Schädigungsverbot; die Veranlassung nachteiliger Geschäfte zulasten der Tochter ist nur bei der Gewährung eines Ausgleichs innerhalb Jahresfrist zulässig. Fügte man diesem geschlossenen System die Regelungen des Sell-out hinzu, würde dies zu einem “Überschutz” und Brüchen im System führen, da das Konzept des Aktienrechts möglichen Interessenkollisionen bereits vorab begegnet. Bestehen Unternehmensverträge (Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsverträge), sieht das deutsche Aktienrecht neben Ausgleichsansprüchen der Aktionäre auch die Möglichkeit des Austritts aus der Gesellschaft unter Gewährung einer Abfindung vor. Diese Abfindungsrechte haben eine Zielrichtung ähnlich dem Sell-out, aber sie stehen in einem anderen Gesamtkonzept. Grundlage für die Leistung der Abfindung ist der Abschluss eines Unternehmensvertrages, der zu erheblichen strukturellen und wirtschaftlichen Umgestaltungen führt. Anders als beim Sell-out bleibt daher nicht nur die Autonomie des Handelns gewahrt, sondern es liegt auch ein rechtfertigender Grund zur Gewährung einer Abfindungsleistung vor. Unangemessene GefährdungUnternehmen mit geringem Streubesitzanteil (Free Float) und deren Mehrheitsgesellschafter stellen die geplanten Sell-out-Regelungen vor besondere Probleme, wenn sie nicht sowieso ein Delisting anstreben. Die Auswahlindizes der Deutschen Börse (Dax, MDax, SDax, TecDax und HDax) sehen für das Verbleiben an der Börse einen Mindeststreubesitz von 5 % vor. Diese Schwelle kann bei Unternehmen, die über einen Festbesitz von 90 bis 95 % verfügen, leicht unterschritten werden, was in der Folge ein Delisting nach sich ziehen kann. Die Gefährdung einer mit erheblichem Aufwand und Kosten verbundenen Börsennotierung erscheint gerade vor dem Ziel, einen stabilen und erfolgreichen europäischen Kapitalmarkt aufzubauen, nicht angemessen. Hohe KostenDas Sell-out zieht zudem zwangsläufig verfahrenstechnische Probleme und hohe Kosten nach sich. Der Vorschlag billigt den Mitgliedstaaten hinsichtlich der verfahrenstechnischen Ausgestaltung die Wahl zwischen der individuellen oder gemeinschaftlichen Ausübung des Sell-out- Rechts zu. Im ersten Fall, der die Rechtslage in Dänemark und Schweden widerspiegelt, muss mit einer Flut von Verfahren gerechnet werden, da die Anträge der einzelnen Aktionäre in enger zeitlicher Folge nacheinander eingehen können, ohne dass es in irgendeiner Form zeitliche Begrenzungen geben würde. Das ist mit großem technischem Aufwand und erheblichen Kosten verbunden, da die einzelnen Anträge regelmäßig Bewertungsverfahren und ggf. gerichtliche Auseinandersetzungen nach sich ziehen können. Zwar beinhaltet der EU-Vorschlag keine Regelung darüber, wer die Kosten zu tragen hat. Doch wäre jedenfalls eine Regelung zur Bündelung der Anträge einzelner Aktionäre erforderlich. Aber auch eine solche Bündelung kann sich nicht über einen zu langen Zeitraum hinziehen – jährlich wiederkehrende Sell-out Verfahren mit erheblichen Kosten wären die Folge. Aber auch eine gemeinsame Geltendmachung des Sell-out müsste den Aktionären die Möglichkeit zur vorherigen Abstimmung bieten, damit ein gemeinsamer Austritt vorbereitet werden kann. Zudem würde eine solche Regelung den Austritt aller Aktionäre nach sich ziehen, was im Hinblick auf die erforderliche Liquidität des Mehrheitsgesellschafters und das Beibehalten des Listings der Gesellschaft bedenklich sein kann. Die Möglichkeit des jederzeitigen Verkaufs durch den Minderheitsaktionär birgt ähnlich wie beim Squeeze-out und den Unternehmensverträgen die Gefahr, dass der Kurs vor Ausübung des Rechts in die Höhe getrieben wird, um eine möglichst hohe Abfindung zu erlangen. Beim Sell-out ist die Gefahr aber größer, da die Ausübung des Rechts voll und ganz vom Aktionär abhängt, so dass etwaige Kursmanipulationen einfacher und auf längere Sicht vorbereitet werden können. Entgegenwirkende Regelungen müssten zusätzlich in das deutsche Recht aufgenommen werden. Die in der Praxis gesammelten Erfahrungen zu möglichen Umgehungen des Sell-out sprechen gegen dessen Effizienz. So sind beispielsweise in Dänemark die Unternehmen zur Vermeidung von Sell-outs dazu übergegangen, alle Minderheitsaktionäre über das Squeeze-out aus der Gesellschaft auszuschließen, wenn ein Sell-out droht und die Gesellschaft über ausreichende Liquidität verfügt. In Dänemark sind deshalb kaum Fälle des Sell-out bekannt. Belastende LösungDie Einführung des Sell-out führt im Ergebnis sogar zu einem Effekt, der konträr zum Ziel des Minderheitenschutzes liegt: Auch diejenigen, die gerne in der Gesellschaft verbleiben würden, werden ausgeschlossen. Schließlich fügen sich die Sell-out-Pläne nicht in die von der EU-Kommission mittelfristig anzugehenden Rahmenvorschriften zum Konzernrecht ein. Regelungen zum Schutz der Minderheit vor Interessenkollisionen hätten alleine hier ihren richtigen Platz.Im Ergebnis stellt sich das Sell-out aus deutscher Sicht als unverhältnismäßig belastende Lösung dar. Mit der Regelung sind Einschränkungen in der unternehmerischen Handlungsfreiheit, hohe Kosten, langwierige Verfahren, drohende Delistings und Gefahren von Kursmanipulationen verbunden. Der angestrebte Schutz der Minderheitsaktionäre erweist sich als wenig effizient und wird in Deutschland bereits durch das Konzernrecht erreicht. Für den Standort Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene kann sich die Einführung eines Sell-out daher nicht empfehlen.*) Hans-Ulrich Wilsing ist Rechtsanwalt und Partner im Kölner, Dr. Silja Maul Rechtsanwältin im Brüsseler Büro von Linklaters Oppenhoff & Rädler.