RECHT UND KAPITALMARKT - IM INTERVIEW: CARSTEN VAN DE SANDE

Spezialisierte Anwälte werden Musterklage für sich zu nutzen wissen

Vorschlag der EU-Kommission geht über die Rechtslage in Deutschland hinaus

Spezialisierte Anwälte werden Musterklage für sich zu nutzen wissen

– Herr van de Sande, seit 1. November steht die Musterfeststellungsklage zur Durchsetzung von Verbraucherrechten gegen Konzerne zur Verfügung. Wie kommt ein geschädigter Kunde zu seinem Recht?Mit der Musterfeststellungsklage sollen Fragen, die sich in einer Vielzahl von gleichartigen Fällen stellen, für die betroffenen Verbraucher vorab geklärt werden. Klagebefugt sind aber nicht die Verbraucher, sondern nur bestimmte Verbände. Im Musterfeststellungsverfahren klärt das nach dem Gesetz zuständige Oberlandesgericht zum Beispiel, ob ein von dem beklagten Unternehmen hergestelltes Produkt mangelhaft war oder eine Klausel in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten unwirksam ist. Der betroffene Verbraucher muss seinen Anspruch zunächst im elektronischen Klageregister anmelden. Nach Abschluss des Musterfeststellungsverfahrens muss er dann zur Durchsetzung seiner individuellen Ansprüche selbst Klage erheben. Das Gericht, das über diese Klage entscheidet, ist an die Feststellungen des Oberlandesgerichts gebunden.- Handelt es sich vor allem um eine Lex Volkswagen, oder geht es darüber hinaus?Die Musterfeststellungsklage ist nicht auf bestimmte Arten von Ansprüchen beschränkt. Zudem hat der Gesetzgeber die Hürde für die Musterfeststellungsklage bewusst niedrig angesetzt. Es genügt, wenn sich 50 Verbraucher, deren Ansprüche von der Musterfeststellungsklage abhängen, nach Bekanntmachung der Klage im Klageregister anmelden. Über die schon angekündigte Klage zum Thema Diesel hinaus wird es daher in absehbarer Zeit Musterfeststellungsverfahren auch zu anderen Themen geben.- Wird professionellen Klägeranwälten und Prozessfinanzierern ein neues Spielfeld geöffnet?Die treibende Kraft hinter den Musterfeststellungsklagen werden voraussichtlich nicht die Verbände, sondern auf die Durchsetzung von Verbraucheransprüchen spezialisierte Anwälte sein. Für sie ist das Musterfeststellungsverfahren eine Investition, die ihnen ermöglicht, eine möglichst große Zahl von Verbrauchern in den sich anschließenden Einzelklageverfahren zu vertreten. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die mit einer Musterfeststellungsklage verbunden ist, hilft den Klägeranwälten, Mandanten zu gewinnen. Prozessfinanzierer werden letztlich ähnliche Überlegungen anstellen.- Zieht nun die Sammelklage nach US-Muster der Class Action in Deutschland ein?Ja und nein. In der rechtlichen Ausgestaltung gibt es deutliche Unterschiede zwischen der Musterfeststellungsklage und einer U.S.-Class-Action. Der deutsche Gesetzgeber wollte das Entstehen einer Klageindustrie, wie sie häufig mit Class Actions in Verbindung gebracht wird, vermeiden. Allerdings ist zu erwarten, dass sich in der Praxis ähnliche Verhaltensmuster herausbilden werden, wie wir sie aus den USA kennen. Das beginnt bei dem Einsatz aggressiver Medienstrategien zur Anwerbung möglicher Anspruchsteller und geht bis hin zu dem Ziel, die beklagten Unternehmen mittels des gerichtlichen Verfahrens und der begleitenden Berichterstattung letztlich zu einem Vergleich zu drängen.- In welchem Wechselspiel steht diese Regulierung mit dem Vorstoß der EU-Kommission zur Verbandsklage?Der Vorschlag der EU-Kommission geht in einigen Punkten über die Rechtslage in Deutschland hinaus. Zum einen ist die Verbandsklage nicht auf reine Feststellungen beschränkt, sondern ermöglicht es den Gerichten auch, das beklagte Unternehmen etwa zur Leistung von Schadenersatz zu verurteilen. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass der klagende Verband von dem beklagten Unternehmen die Vorlage von Unterlagen verlangen kann, um seine Klage zu substantiieren. Damit würde letztlich eine Art “pre-trial discovery” eingeführt. Würde der Kommissionsvorschlag Gesetz, wäre nicht nur die gerade eingeführte Musterfeststellungsklage obsolet. Europa würde auch der Class Action nach US-Muster einen deutlichen Schritt näher kommen.—-Dr. Carsten van de Sande ist Partner von Hengeler Mueller in Frankfurt. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.