Umbruch im OTC-Derivatemarkt schneller als vermutet
Von Bernd Geier *)Am 16. August trat die unter dem Namen “EMIR” (European Market Infrastructure Regulation) bekannt gewordene Verordnung “über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister” in Kraft. Die EMIR regelt umfassend das Clearing von Derivaten, die nicht an einem organisierten Markt (wie z. B. der Eurex Terminbörse), sondern “over the counter” (OTC) gehandelt werden. Wie im Bereich der Finanzmarktregulierung üblich, wird die EMIR u. a. durch technische Regulierungs- und Durchführungsstandards konkretisiert, die bislang teilweise noch nicht und teilweise nur im Entwurf vorliegen. Mit dem Erlass erster Standards ist nicht vor Ende dieses Jahres zu rechnen. ZeitfrageBislang war es im Markt weit verbreitete Auffassung, dass die in der EMIR enthaltenen Pflichten, soweit sie durch Standards zu konkretisieren sind, nicht vor deren Erlass eingehalten werden müssen. Grundlage dieser Auffassung bildete u. a. der Erwägungsgrund 93 der EMIR, der genau diese Aussage trifft. Der Wortlaut der EMIR ist insoweit jedoch nicht eindeutig, da partiell auch auf den 16. August 2012 als zeitlichen Anknüpfungspunkt für das Entstehen der Pflichten verwiesen wird.Mit Schreiben vom 28. August 2012 ist die Europäische Kommission der bisherigen Marktauffassung entgegengetreten. Die Regeln zur Verringerung von Risiken aus OTC-Derivaten gelten nach Auffassung der Kommission vielmehr bereits heute für alle seit dem 16. August 2012 abgeschlossenen OTC-Derivate.Diese Risikominderungstechniken sind einzuhalten, auch wenn für Deutschland bislang keine Aufsichtsbehörde zur Überwachung der Vorgaben aus der EMIR benannt wurde. Bis zum Erlass der konkretisierenden Standards besteht jedoch weitgehender Auslegungsspielraum. Den Parteien der OTC-Derivate steht daher zunächst frei, wie sie die neuen Pflichten im Detail erfüllen. RisikominderungstechnikenIm Einzelnen gelten nach der EMIR die folgenden Risikominderungstechniken: Die Parteien eines OTC-Derivats werden verpflichtet, die Bedingungen der von ihnen neu abgeschlossenen OTC-Derivatekontrakte gegenseitig zeitnah zu bestätigen. Kreditinstitute genügen dieser Vorgabe auf der Basis der Mindestanforderungen an das Risikomanagement regelmäßig bereits heute. Andere Unternehmen – insbesondere Corporates – müssen ihre internen Prozesse jedoch gegebenenfalls unmittelbar anpassen.Darüber hinaus enthält die EMIR eine Verpflichtung, formalisierte Prozesse zum Abgleich bestehender OTC-Derivate-Portfolios, zur Beherrschung der mit diesen Portfolios verbundenen Risiken sowie zur frühzeitigen Erkennung und Ausräumung von Meinungsverschiedenheiten einzuführen. Hierzu ist nicht nur die Schaffung neuer, formalisierter interner Prozesse, sondern gegebenenfalls auch eine Anpassung der Dokumentation erforderlich, zum Beispiel durch vertragliche Verankerung eines Eskalationsverfahrens.Weitergehend verlangt die EMIR von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, Versicherungen und Kapitalanlagegesellschaften, OTC-Derivate täglich zu bewerten. Kapitalanlagegesellschaften führen diese tägliche Bewertung beispielsweise für in Spezialfonds gehaltene OTC-Derivate derzeit jedoch (noch) nicht durch. Insoweit besteht erheblicher Anpassungsbedarf.Die größte Auswirkung dürfte jedoch der aus allgemeinen Risikomanagementgesichtspunkten resultierenden Verpflichtung zur Stellung von Sicherheiten zukommen, die angemessen “von eigenen Vermögenswerten getrennt” zu halten sind. Die Verpflichtung gilt zwar nur für OTC-Derivate zwischen Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, Versicherungen und Kapitalanlagegesellschaften. Die Stellung angemessen segregierter Sicherheiten entspricht aktuell jedoch vielfach nicht der Marktpraxis. Darüber hinaus sind Sicherheiten auch regelmäßig gegenseitig, d. h. in beide Richtungen, zu stellen. Dies bedarf gegebenenfalls einer Anpassung der Vertragsdokumentation.Die Entscheidung der Europäischen Kommission kommt überraschend und löst mannigfaltigen Anpassungsbedarf aus, zumal die ESMA bislang anders verstanden worden war. Das Fehlen von Übergangsfristen erleichtert die Umsetzung nicht. Auch erscheint es nicht zielführend, eine Anpassung interner Prozesse und gegebenenfalls der Dokumentation lediglich für die Übergangszeit bis zum Erlass der konkretisierenden Standards zu fordern. Faktisch wird dadurch eine Doppelanpassung ausgelöst: zum einen an die aktuelle Rechtslage nach Kommissionsstellungnahme, zum anderen – erneut – an die Rechtslage nach Erlass der Standards. Die damit verbundenen Kosten und der personelle Aufwand erscheinen außer Verhältnis zu den erlangten Vorteilen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Kommission zum jetzigen Zeitpunkt von der Abgabe der Stellungnahme abgesehen hätte. Nachdem diese jedoch in der Welt ist, sind die Vorgaben zur Risikominderung durch die von der EMIR Betroffenen nunmehr umzusetzen. Wie diese Umsetzung im Detail erfolgt, bleibt den Gegenparteien jedoch weitgehend überlassen.—-*) Dr. Bernd M. Geier ist Rechtsanwalt bei Allen & Overy in Frankfurt.