Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Lutz Englisch

"Ungleichbehandlung von Zuzugs- und Wegzugsfreiheit überzeugt nicht"

Urteil des Europäischen Gerichtshofs sorgt für Verwirrung

"Ungleichbehandlung von Zuzugs- und Wegzugsfreiheit überzeugt nicht"

Der Europäische Gerichtshof hatte Ende 2008 überraschend in seinem Urteil zum ungarischen Unternehmen Cartesio bei der grenzüberschreitenden Sitzverlegung von Gesellschaften gebremst. Das Gericht billigte eine in Ungarn geltende Regelung, die es dort gegründeten Firmen nicht gestattet, unter Wahrung ihrer rechtlichen Identität den Sitz ins Ausland zu verlegen. Eine EU-weite Regelung zur Niederlassungsfreiheit fehlt bis heute. – Herr Dr. Englisch, wie hat das Cartesio-Urteil bislang in die rechtliche Praxis ausgestrahlt?Das Urteil hat weithin Überraschung und auch Kritik ausgelöst: Überraschung, weil es konzeptionell die über die letzten Jahre vom Europäischen Gerichtshof mit den Urteilen Centros, Überseering, Inspire Arts zur Zuzugsfreiheit von Gesellschaften innerhalb der EU entwickelte Linie verlässt. Kritik, weil die Ungleichbehandlung von Zuzugs- und Wegzugsfreiheit nicht zu überzeugen vermag. Zuzugs- und Wegzugsfreiheit sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille; wird die Wegzugsfreiheit konsequent beschränkt, läuft die Zuzugsfreiheit leer.- Was heißt das für die Firmen?Für die Frage der Unternehmensmobilität innerhalb der EU müssen wir drei Fallgestaltungen unterscheiden: Der Zuzug von Gesellschaften aus einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen ist nach der Rechtsprechung des EuGH durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistet. Die Wegzugsfreiheit hingegen ist nicht geschützt, insoweit greift jeweils nationales Recht, das heißt derzeit 27 verschiedene Rechtsordnungen. EU-rechtlich geregelt ist die Sitzverlegung für die supranationalen Rechtsformen der Europäischen Gesellschaft SE, der Europäischen Genossenschaft SCE und der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung EWIV. Für die Praxis wirft das Urteil die Frage nach der weiteren Rechtsentwicklung erneut auf.- Welche Gestaltungen sind im Falle des Wegzugs noch möglich?Auch hier müssen wir differenzieren: Hinsichtlich der deutschen GmbH und der deutschen AG sind wir in der komfortablen Lage, dass unser GmbH-Recht und das Aktiengesetz seit November 2008 eine Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes ins EU-Ausland zulassen. Der Satzungssitz muss dabei nach wie vor in Deutschland sein. Bei Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen EU-Mitgliedstaats gegründet sind, ist zu prüfen, ob das ausländische Recht die Wegzugsfreiheit beschränkt. Ist dies der Fall, bleibt im Wesentlichen nur die Hineinverschmelzung in eine Gesellschaft im Zielmitgliedstaat, also eine aufwendigere Strukturmaßnahme.- Inwieweit hängt der Spielraum für den Wegzug von der Rechtsform der Gesellschaft ab?Die Frage der Sitzverlegung ist für die europäischen Rechtsformen der SE, der SCE und der EWIV europarechtlich und damit für die gesamte EU weitestgehend einheitlich geregelt. Bei nationalen Gesellschaftsformen müssen wir letztlich je Rechtsform konkret prüfen, ob mitgliedstaatliche Wegzugsbeschränkungen bestehen.- Gibt es Bestrebungen zur Vereinheitlichung durch die EU?Die gibt es sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene: Die bisherige Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort auf eine kleine parlamentarische Anfrage im vergangenen März dafür ausgesprochen, die grenzüberschreitende Verlegung des Registersitzes für die EU einheitlich zu regeln. Zugleich hat auch das Europäische Parlament die EU-Kommission aufgefordert, einen Regelungsvorschlag vorzulegen.- Wo könnte angesetzt werden?Es gibt bereits Vorarbeiten innerhalb der Kommission zur sogenannten 14. Gesellschaftsrechtsrichtlinie. Sie sind Ende 2007 vom zuständigen Binnenmarkt-Kommissar McCreevy in der sicheren Erwartung eingestellt worden, der EuGH werde anlässlich des Cartesio-Verfahrens auch für den Wegzugsfall die EU-weite Unternehmensmobilität stärken. Dem war nicht so: Es ist also damit zu rechnen, dass die demnächst ins Amt kommende neue EU-Kommission diese Arbeiten wieder aufnehmen wird.- Womit rechnen Sie?Zu erwarten ist, dass sie sich dabei an den Regelungen zum grenzüberschreitenden Sitzwechsel orientieren wird, die wir bereits in den Statuten zur SE und zur SCE finden können. Das Europaparlament hat mit seiner Entschließung vom 10. März 2009 schon konkrete Empfehlungen vorgelegt. In dieser Kernfrage der europäischen Niederlassungsfreiheit ist die aktuelle Rechtslage mit einer Vielzahl nicht aufeinander abgestimmter einzelstaatlicher Regelungen für die Praxis sicherlich unbefriedigend.—-Dr. Lutz Englisch ist Rechtsanwalt und Partner im Münchener Büro von Ashurst. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.