RECHT UND KAPITALMARKT

Vertane Chance für Emittenten und Privatanleger

Der europäische Zertifikatemarkt steht vor prospektrechtlicher Herausforderung - Der Vorstoß der EU-Wertpapieraufsichtsbehörde

Vertane Chance für Emittenten und Privatanleger

Von Oliver Dreher, Berthold Kusserow und Patrick Scholl *)Das auf Zertifikate anwendbare Prospektrecht krankt seit der Einführung der EU-Prospektrichtlinie im Jahr 2003: So ist das Verhältnis zwischen dem von der Aufsichtsbehörde gebilligten Basisprospekt für ein Zertifikateprogramm eines Emittenten und den für das einzelne Zertifikat geltenden endgültigen Bedingungen, die keiner Billigung durch die Aufsichtsbehörde bedürfen, ungeklärt. Dieser Basisprospekt ist traditionell ein Multiemissionsprospekt. Er soll Emittenten von Anleihen oder Zertifikaten davon entlasten, ständig den aufsichtsrechtlichen Billigungsprozesses zu durchlaufen. Hierdurch werden sowohl der bürokratische Aufwand als auch die Produktionskosten reduziert, was den Anlegern zugutekommt.Das Zertifikat gilt seit der Finanzkrise im politischen Bereich als prinzipiell gefährlich, seine Funktion als sinnvolle Anlagemöglichkeit für Privatinvestoren wurde in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, dass Zertifikate in einem Prospekt beschrieben werden und dass sie auf der Grundlage einer vollständigen und anlegergerechten Beratung vertrieben werden. So einfach diese Marschroute ist, so schwer tut sich jedoch die Gesetzgebung mit ihren Maßnahmen zum Schutze von Privatinvestoren. Die jüngsten Vorschläge der neuen EU-Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA machen insoweit keine Ausnahme. Fokus auf BeipackzettelSeit Anfang Juli gilt, dass der Anleger die erste Information über ein Zertifikat – im Rahmen einer Anlageberatung – durch einen Beipackzettel, dem sog. Informationsblatt, erhält. Das ist grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung, denn Investoren brauchen verlässliche Informationen, um eine erste Auswahl zwischen mehreren im Wettbewerb stehenden Produkten treffen zu können. Richtig ist dabei auch, dass diese Informationsblätter vereinheitlicht und vorstrukturiert werden, sodass der Vergleich zwischen zwei Produkten nach kurzer Recherche für den Anleger möglich ist. Damit erweist sich der Gesetzgeber durchaus als innovativ, denn auf welchem Retailverbrauchsgüter- oder Dienstleistungsmarkt ist das bislang möglich?In den Hintergrund rückt dabei zunehmend der Prospekt. Dieser alleine sollte das Zertifikat vollständig und rechtlich bindend beschreiben und im Anschluss an die Vorauswahl auf der Grundlage der Informationsblätter gelesen werden. Der Prospekt ist durch die Vorgaben der EU-Prospektrichtlinie – entgegen seiner eigentlichen Zielrichtung – primär zu einer ausschließlich dem Billigungsverfahren dienenden Angebotsunterlage des Emittenten verkommen. Der ESMA-VorstoßDies gilt vor allem für den Basisprospekt. Dabei war es bislang ständige Praxis, dass Emittenten in diesem Dokument die konkreten Zahlungsversprechen und Produktbedingungen flexibel darstellen und ausformen konnten. Dadurch gewannen sie im Rahmen der einjährigen Gültigkeit eines Basisprospekts genug Spielraum, um innovative Produkte begeben zu können. Daher ist der Basisprospekt ein komplexes technisches Dokument, denn die Vielzahl der in ihm enthaltenen Produktvarianten müssen vollständig und rechtlich zutreffend beschrieben werden.Aus diesem Grund ist die Praxis richtigerweise dazu übergegangen, dem Investor in einem Begleitdokument zum Basisprospekt, das die endgültige Ausgestaltung und die endgültigen Auszahlungsbedingungen des einzelnen Zertifikats wiedergeben soll, die wesentlichen Informationen zu vermitteln. Das Ziel: Dem Investor wird – unabhängig von anderen Zertifikaten des Emittenten – eine vollständige und transparente Angebotsunterlage über das einzelne Zertifikat unterbreitet.Im November 2010 haben das Europäische Parlament und der Rat die Prospektrichtlinie geändert und die Möglichkeit geschaffen, dass die Europäische Kommission delegierte Rechtsakte erlassen kann. Die ESMA hat am 15. Juni mehrere Vorschläge hierzu unterbreitet. Einer davon zielt auf das – auch seitens der Änderungsrichtlinie weiterhin ungeklärte – Verhältnis zwischen Basisprospekt und dem Dokument mit den endgültigen Bedingungen.Die ESMA ist der Ansicht, dass alle für ein Zertifikat relevanten Informationen in den Basisprospekt aufgenommen werden sollen. Das gilt vor allem für die anvisierte Auszahlungsstruktur und die Auszahlungsbedingungen eines Zertifikats. In die endgültigen Bedingungen darf dagegen nichts Wesentliches mehr aufgenommen werden; es werden dort folglich nur noch die nackten Zahlen wiedergegeben.Der Vorschlag der ESMA ist von der Idee geprägt, dass quasi jedes Zertifikat mit einer eigenen Auszahlungsstruktur ein eigenes Produkt darstellt. Daher müsse es im Rahmen der Billigung eines jeweils eigenen Basisprospekts von der zuständigen Aufsichtsbehörde geprüft werden. Kein Zertifikat darf also ohne behördliche Prüfung der konkreten Auszahlungsstruktur in den Markt. Im Regen stehen gelassenDamit lässt die ESMA jedoch Emittenten wie Privatanleger gleichsam im Regen stehen: Der Basisprospekt wird für Emittenten von einer vergleichsweise kostengünstigen Produktionsplattform zur teuren und zeitraubenden Angelegenheit “entwickelt”. Die Emittenten hätten bei Umsetzung des Vorschlags der ESMA die Wahl zwischen unzähligen, dauerhaft zu verwaltenden Mini-Basisprospekten oder einem einzelnen, dann mehr als tausend Seiten umfassenden Basisprospekt, der den Privatanleger vor einige Herausforderungen stellen wird. Dabei müssen die Emittenten heute schon berücksichtigen, dass die Billigung eines Basisprospekts nach den gesetzlichen Fristen mindestens zehn Tage und in der Praxis mitunter mehrere Wochen lang dauert. Letztlich werden daher nur wenige Emittenten ein wettbewerbsfähiges Zertifikateprogramm beibehalten können. Überforderung ohne NotZudem wird dem Privatanleger fortan keine vollständige Angebotsunterlage mehr zur Verfügung gestellt, die nur sein anvisiertes Zertifikat betrifft. Er muss sich durch den Basisprospekt quälen und das Begleitdokument mit den endgültigen Bedingungen des Zertifikates danebenlegen. Nur durch Zusammenschau beider Dokumente kann er feststellen, was für ihn gilt.Er ist darauf angewiesen, dass er hoffentlich alle, auch für “sein” Zertifikat geltenden Informationen im Basisprospekt findet. Es ist zu erwarten, dass unerfahrene Privatanleger diese Herausforderung nicht meistern werden. Warum also überfordert die ESMA den Privatanleger ohne Not? Letztlich opfert die ESMA mit dem Vorschlag der – einer Produktkontrolle sehr nahekommenden – vollständigen Prospektaufsicht das Instrument des Basisprospekts als Angebotsunterlage. Vielmehr werden Anleger entgegen der gesetzlichen Zielrichtung ausschließlich auf die Beipackzettel und die hoffentlich anlegergerechte Beratung verwiesen. Weiterentwicklung verpasstFür einen transparenten Zertifikatemarkt ist es jedoch unabdingbar, dass neben Beipackzettel, Anlageberatung und Bewerbung des Produkts eine verlässliche Angebotsunterlage existiert. Diese sollte vollständig sowie nur auf das konkrete Produkt bezogen sein und den Privatanlegern so die Möglichkeit geben, die Beratung auch zu hinterfragen. Außerdem ist es nicht erforderlich, dass die Aufsicht jedes Auszahlungsprofil bei der Billigung des Prospekts prüfen oder kennen muss. Obwohl Zertifikate inhaltlich vielgestaltig sind, liegt ihnen doch meist eine typisierbare Investmentidee zugrunde. Daher ist es auch völlig ausreichend, wenn diese Investmentidee auf der Basisprospektebene beschrieben wird – soweit dies praktisch vorweg möglich ist und einschließlich der damit zusammenhängenden Risiken.Deshalb wäre es richtig gewesen, das die endgültigen Bedingungen enthaltende Dokument zu einem den Basisprospekt konkretisierenden Mini-Produktprospekt fortzuentwickeln, der alle wesentlichen Produktinformationen in konsolidierter Form enthält, wie es heute bereits teilweise der Praxis entspricht. Mit dem Basisprospekt hätte sich der Anleger dann nur noch hinsichtlich der Emittenten- und Finanzinformationen befassen müssen. Diese Chance wird nun wohl leider vertan.—-*) Oliver Dreher ist Partner, Dr. Berthold Kusserow Of Counsel und Dr. Patrick Scholl Managing Associate im Frankfurter Büro von Linklaters.