Recht und Kapitalmarkt

Von der Lex Telekom zum Instrument des Rechtsschutzes

Das Kapitalanleger-Musterverfahren: Auf dem Weg zur effizienten und rechtlich einwandfreien Abwicklung von Massenverfahren

Von der Lex Telekom zum Instrument des Rechtsschutzes

Von Axel Halfmeier *) Für das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) geht am 1. November die Sonne unter, wenn nicht der Bundestag zuvor eine Entfristung oder Verlängerung des Gesetzes beschließt. Das sieht die “sunset clause” dieses 2005 entstandenen Gesetzes vor. Damals sah man das KapMuG vor allem als Reaktion auf den Telekom-Anlegerprozess, der das Landgericht Frankfurt faktisch lahmzulegen drohte, weil über 16 000 enttäuschte Telekom-Aktionäre Schadenersatz aus Prospekthaftung mit einer Vielzahl von Begründungen verlangten.Mit dem KapMuG sollten die gemeinsamen rechtlichen und faktischen Aspekte dieser Einzelklagen gebündelt und verbindlich in höherer Instanz geklärt werden. Die Causa Telekom wurde seither in das KapMuG-Verfahren überführt und ist heute noch beim Oberlandesgericht in Frankfurt anhängig. Ein Ende ist nicht absehbar. Der nächste Prozesstermin soll erst am 15. Dezember stattfinden – übrigens in jedem Fall weiterhin im KapMuG-Verfahren, das trotz “sunset clause” für anhängige Verfahren fortgilt. Der FortschrittDer nicht endende Telekom-Prozess heißt aber nicht, dass das KapMuG versagt hätte. Auch ohne KapMuG wäre kein schnelleres Verfahren möglich gewesen. Eine Studie der Frankfurt School of Finance & Management zu der überschaubaren Zahl der bisher geführten KapMuG-Verfahren zeigt, dass die meisten Beteiligten das KapMuG eher als Fortschritt sehen. Insbesondere der Streit um Schadenersatzansprüche wegen einer angeblich verspäteten Ad-hoc-Mitteilung zum Rücktritt des Daimler-Chefs Jürgen Schrempp konnte zügig im KapMuG-Verfahren abgewickelt werden. Angesichts dieser durchaus positiven Erfahrungen sollte das Experiment KapMuG nicht voreilig abgebrochen werden. Es ist daher zu begrüßen, dass die Justizministerin dem Bundestag zumindest eine Verlängerung des KapMuG vorschlagen will. Die SchwächenAllerdings zeigt das Telekom-Verfahren auch die Schwächen des KapMuG. Daher ist nicht nur die Verlängerung, sondern auch eine Reform des Gesetzes nötig. Diese muss sich an den mit dem KapMuG ursprünglich verfolgten Zielen orientieren, die allerdings nicht ganz widerspruchsfrei sind. So sollte einerseits ein besserer Investorenschutz durch die stärkere Rechtsdurchsetzung im Bereich des Kapitalmarktrechts erreicht werden, andererseits aber auch die Justiz entlastet werden.Hinzu kam die standortpolitische Überlegung, dass das deutsche Recht im Wettbewerb vor allem mit der berühmt-berüchtigten US-amerikanischen “class action” ein wirksames Verfahren der Rechtsdurchsetzung bei kapitalmarktrechtlich geprägten Massenschäden benötigt. Diese Ziele kann das KapMuG in seiner gegenwärtigen Fassung aber nur in bescheidenen Ansätzen erreichen. Sein Hauptproblem liegt darin, dass es zu sehr am überlieferten Modell des Individualprozesses festhält, welches für die Bewältigung von Massenschäden schlichtweg nicht geeignet ist.Nach derzeitigem Recht wirkt das Musterverfahren ausschließlich für und gegen diejenigen Geschädigten, die bereits eine Einzelklage erhoben haben und die damit verbunden erhebliche Kostenrisiken eingegangen sind. Das ist angesichts der angestrebten stärkeren Rechtsdurchsetzungswirkung unbefriedigend. Die ökonomische Betrachtung zeigt, dass in zahlreichen Fällen die Erhebung einer Klage selbst bei Individualschäden in Höhe von mehreren Tausend Euro aufgrund des Prozesskostenrisikos schlichtweg irrational ist. Selbst im Telekom-Fall stellen die 16 000 Kläger nur einen Bruchteil aller möglicherweise geschädigten Aktionäre dar. Diese rationale Apathie der Geschädigten bedeutet unter anderem, dass die Anreize zur Einhaltung kapitalmarktrechtlicher Vorschriften bei Aktiengesellschaften mit breit gestreuter Aktionärsstruktur deutlich geringer sind als bei Gesellschaften, die nur wenige Großaktionäre haben.Das ist im Hinblick auf die volkswirtschaftlich gewünschte und vom Kapitalmarktrecht angestrebte optimale Kapitalallokation nicht sinnvoll. Daher ist das Prozesskostenrisiko für geschädigte Kapitalanleger zu verringern. Dies könnte im Bereich des materiellen Rechts etwa durch Klarstellungen bei der Beweislast im Bereich fehlerhafter oder unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen geschehen. Im Verfahrensrecht, also im KapMuG, sollte eine Beteiligungsform geschaffen werden, die bezüglich der Kosten unterhalb der Schwelle einer gewöhnlichen Klage liegt, die aber trotzdem die Rechte der Betroffenen wahrt und die Verjährung ihrer Ansprüche verhindert.Diese “einfache Beteiligung” am Musterverfahren ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur mehrfach vorgeschlagen worden. Ihre Implementation könnte nicht nur die Rechtsdurchsetzung stärken, sondern auch die Justiz entlasten. Wer sich nämlich als Geschädigter freiwillig auf eine solche einfache Beteiligung beschränkt, müsste nicht sämtliche Verfahrensrechte haben, die einem Kläger im gewöhnlichen Zivilprozess zustehen. Die gegenwärtige Lösung mit Tausenden von theoretisch gleichberechtigten Beteiligten ist z. B. im Telekom-Verfahren nur deswegen erträglich, weil der Großteil dieser Beteiligten von seinen Mitwirkungsrechten gar keinen Gebrauch macht. Der ZwangscharakterZugleich sollte der weltweit einzigartige faktische Zwangscharakter des KapMuG aufgegeben werden. Nach derzeitigem Recht wird nämlich jeder Kläger in einer von Musterverfahren abgedeckten Angelegenheit in dieses Verfahren hineingezwungen. Er kann nicht austreten, sondern allenfalls gänzlich auf eine Klage verzichten, was aber regelmäßig zur Verjährung seiner Ansprüche führt. Das passt nicht in eine Zeit, in der mit vielfältigen Formen des kollektiven Rechtsschutzes experimentiert wird – man denke etwa an Verbandsklagen oder an gebündelte Abtretungen an einzelne Kläger. Hier sollten die Betroffenen selbst unter den ihnen geeignet erscheinenden Instrumenten wählen können. Auch im internationalen Vergleich beobachtet man derzeit eine Reihe von Entwicklungen und Experimenten im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes. Eine solche Vielfalt kann und sollte zum Sammeln weiterer Erfahrungen genutzt werden.Ein weiterer gravierender Nachteil des geltenden KapMuG besteht im Fehlen einer sinnvollen Regelung zur gütlichen Streitbeilegung. Das Gesetz erlaubt einen Vergleich im Musterverfahren nur unter der zumindest in Massenverfahren völlig unrealistischen Annahme, dass sämtliche Beteiligte einem konkreten Vergleichsvorschlag zustimmen. Damit wird zur seltenen Ausnahme gemacht, was im internationalen Vergleich die Regel ist. Gerade weil das individuelle Abarbeiten mehrerer Tausend Einzelfälle das Justizsystem überfordert, sollte in Massenverfahren eine gütliche Einigung gefördert und nicht verhindert werden. Dazu bietet es sich an, das in den Niederlanden erfolgreich eingeführte Modell des gerichtlich genehmigten Vergleichs mit Breitenwirkung zu übernehmen: Ein Vergleichsvorschlag, der zwischen einzelnen Klägern und dem Beklagten ausgehandelt wurde, wird dem Gericht zur Prüfung vorgelegt. Hält das Gericht dies im Hinblick auf die Sach- und Rechtslage für eine faire und angemessene Konfliktlösung, so genehmigt es den Vergleich. Er wirkt dann für und gegen sämtliche Beteiligte, sofern diese nicht nach entsprechender Benachrichtigung ihren Austritt erklären. Auch in den Niederlanden wird also niemand zu einem Vergleich gezwungen. Das Verfahren hat sich dort faktisch bewährt, auch in komplexen kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten wie etwa bezüglich der umstrittenen Bewertung von Öl- und Gasreserven bei Royal Dutch/Shell. Der ZufallInsgesamt ist das deutsche Verfahrensrecht mit dem KapMuG auf einem guten Weg hin zu einer zugleich effizienten wie rechtsstaatlich einwandfreien Abwicklung von Massenverfahren. Das Verfahren muss daher auch nicht auf den Bereich des Kapitalmarktrechts beschränkt bleiben. Dies ist eher ein historischer Zufall, der sich aus der Telekom-Problematik entwickelt hat. Allerdings sind die dargestellten Reformen notwendig, um im europäischen und internationalen Vergleich eine wegweisende Rolle spielen zu können.—-*) Axel Halfmeier ist Professor für deutsches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht an der Frankfurt School of Finance.