RECHT UND KAPITALMARKT

Vorstand hat weites Ermessen bei Fusionen

Bundesverfassungsgericht stärkt Transaktionssicherheit - Entscheidung zum Zusammenschluss von Daimler und Chrysler

Vorstand hat weites Ermessen bei Fusionen

Von Christoph H. Seibt *)Mit seinem Beschluss vom 24. Mai 2012 (1 BvR 3221/10) trägt das Bundesverfassungsgericht bei genauer Betrachtung zu einem Gewinn an Transaktionssicherheit bei Fusionen von börsennotierten Unternehmen bei und detailliert weiter seine eng-maschige Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Schutz des Aktieneigentums (insbesondere in den Entscheidungen Feldmühle, DAT/Altana, Delisting) für den Fall der Verschmelzung börsennotierter Unternehmen. Anlass dafür bot dem Gericht die Aufarbeitung der seinerzeit spektakulären und innovativen Struktur der Fusion von Daimler und Chrysler (1998). Zugleich reichen die Feststellungen des Gerichts zur Methode der Unternehmensbewertung, zu bestimmten Prognoseverfahren sowie zum Einschätzungsvorrecht der Geschäftsleitung bei diesen Fragen über den konkreten Einzelfall weit hinaus.Im Entscheidungsfall ging es um die Bildung der DaimlerChrysler AG als Konzernmutter der beiden börsennotierten Fusionspartner, die auf deutscher Seite das Daimler-Geschäft durch Verschmelzung zur Aufnahme mit der Daimler Benz AG als übertragendem Rechtsträger erhielt. Die Geschäftsleitungen der beiden beteiligten Kapitalmarktunternehmen hatten das wirtschaftliche Wertverhältnis zwischen den Fusionsparteien und das Umtauschverhältnis der Verschmelzung auf der Basis interner Berechnungen verhandelt; das Verhandlungsergebnis wurde danach von dem gerichtlich bestellten Verschmelzungsprüfer als angemessen bestätigt. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte wie andere Instanzgerichte in anderen Fällen mit Unterstützung des Schrifttums auch die Anträge von Daimler-Benz-Aktionären auf bare Zuzahlung im Spruchverfahren in erster Linie abgelehnt. Begründung: Die Umtauschrelation sei in einem ordnungsgemäßen Verfahren zwischen unabhängigen, gleichberechtigten Unternehmen vereinbart worden, und dies trage eine Richtigkeitsgewähr für den Ausgleichsanspruch in sich. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nicht angenommen, aber gleichzeitig die verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe konturiert:Das Eigentumsgrundrecht des Artikels 14 Absatz 1 Grundgesetz (GG) hat einen materiellen und einen prozessualen Gehalt, und beide Grundrechtsaspekte stehen in einer Wechselwirkung. In materieller Hinsicht folgt nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Eigentumsgrundrecht, dass der Aktionär für den Verlust seiner mitgliedschaftlichen Stellung (Fälle: Squeeze-out; Eingliederung; Verschmelzung zur Aufnahme) oder für den Fall, dass seine vermögensrechtliche Position “durch eine Strukturmaßnahme in relevantem Maße eingeschränkt” wird, wirtschaftlich voll entschädigt werden muss. Obwohl der Hinweis auf den Entschädigungszwang bei erheblichen Beeinträchtigungen der vermögensrechtlichen Aktionärsstellung an die sogenannte Holzmüller-Formulierung des Bundesgerichtshofs erinnert, werden hier tatsächlich lediglich abstrakt Ausgleichsregelungen bei Beherrschungs- und anderen Unternehmensverträgen umschrieben. Denn klar sollte sein: Es gibt keinen verfassungsrechtlich zwingenden Ausgleichsanspruch von (Minderheits-)Aktionären in Fällen des Delisting (so gerade erst das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 11. Juli), der Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss oder bei Ausgliederungen oder sonstigen sogenannten Holzmüller/Gelatine-Sachverhalten.In prozessualer Hinsicht muss der Abfindungs- und Ausgleichsanspruch gerichtlich überprüfbar sein, allerdings ist die durch die Zivilgerichte einzuhaltende Prüfungs-dichte verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschränkt. Art. 14 Abs. 1 GG schreibt nämlich weder eine bestimmte Methode der Unternehmensbewertung noch bestimmte Prognoseverfahren zur Einschätzung künftiger Erträge vor. Verfassungsrechtlich unbedenklich als Methode der Unternehmensbewertung ist “die Ertragswertmethode”, was die Zulässigkeit der in der Praxis anerkannten Methodenvarianten umfasst. Aber – und dies ist insoweit die neue Feststellung des Bundesverfassungsgerichts: Die gerichtliche Kontrolle der Verschmelzungsrelation kann auch bei Beteiligung von wirtschaftlich und rechtlich unabhängigen Unternehmen nicht “lediglich” auf die Prüfung eines ordnungsgemäßen Verhandlungsprozesses beschränkt werden, da verfassungsrechtlich allein maßgeblich sei, “ob durch das Verhandlungsergebnis ein voller wirtschaftlicher Wertausgleich geschaffen wird”. Denn selbst pflichtgemäß geführte Transaktionsverhandlungen würden – so das Verfassungsgericht – hierfür keine hinreichende Richtigkeitsgewähr bieten, weil sie von vielfältigen weiteren unternehmerischen Erwägungen getragen sein können. Diese Einschätzung mag dogmatisch darauf verweisen, dass sich die Pflichtenstellung des Vorstands bei der Verhandlung einer Fusion richtigerweise auf das gesamte Unternehmensinteresse bezieht, es bei der Festlegung der Abfindung aber allein um das Aktionärsinteresse geht. SpannungsverhältnisDieses Spannungsverhältnis und die gleichzeitige Erkenntnis, dass es “die” richtige Unternehmensbewertung bzw. “das” richtige Umtauschverhältnis nicht gibt, führen zur verfassungsrechtlichen Anerkennung eines breiten Beurteilungsermessens der Geschäftsleitung: Die der Unternehmensbewertung zugrunde liegenden Prognosen über die künftige Entwicklung der Unternehmen und ihrer Erträge sind gerichtlich lediglich darauf zu überprüfen, ob sie, erstens, auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage beruhten (bloß übliche Plausibilitäten sind demnach nicht ausreichend) und, zweitens, “vertretbar” sind. Eine von der Geschäftsleitung vertretbar zugrunde gelegte Geschäftsprognose soll nicht durch eine andere, ebenfalls vertretbare Prognose des Gerichts bzw. durch den im Spruchverfahren ausnahmsweise herangezogenen Gerichtssachverständigen ersetzt werden. Eine gerichtliche “Ersetzungsbefugnis” vertretbarer Prognosefestsetzungen würde nicht nur die Handlungsfähigkeit deutscher Unternehmen unerträglich einschränken, sondern wegen dann überlanger Verfahrensdauer faktisch auch den Rechtsschutz der Minderheitsaktionäre einschränken.Diese der Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 1 Aktiengesetz) ähnelnde Beurteilungsprärogative der Geschäftsleitung ermöglicht auch in Zukunft die Zuweisung von erwarteten Fusionssynergien an die Aktionäre des Fusionspartners im Wege einer Prämienzahlung, solange nur nicht der Rahmen der Vertretbarkeit bei der Unternehmensbeurteilung und der Festlegung der Umtauschrelation überschritten wird. Auch andere, in einer Transaktionsverhandlung pflichtgemäß einbezogene strategische Wertaspekte führen nicht per se zum Verfehlen des “vollen wirtschaftlichen Ausgleichs”, umgekehrt auch eben nicht automatisch zur Unangreifbarkeit des festgelegten Abfindungsanspruchs. Eine Indizwirkung für die Angemessenheit der Aktionärsansprüche bei sorgfältigen Verhandlungen ist auch nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts insbesondere bei einem strukturellen Gleichlauf der Interessen von Aktionärsmehrheit und -minderheit möglich.Sinnfällig ist das schon deshalb, weil in solchen Fällen das Verhandlungsergebnis ein Markttest für die durch Ertragswertmethode oder Börsenkursrelationsvergleich ermittelte Bewertung bzw. das Wertverhältnis ist. Nur ein solches Verständnis einer Indizrelevanz führt dazu, dass eine Wertungseinheit mit anderen Transaktionsstrukturen zur Unternehmenszusammenführung besteht, insbesondere Aktientauschstrukturen mit Sachkapitalerhöhung oder Unternehmenserwerbe mit Gewährung eigener Aktien, und dass alle nach denselben anerkannten Pflichtenmaßstäben des Vorstands erfolgen.—-*) Prof. Dr. Christoph H. Seibt ist Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer und Honorarprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg.