INVESTMENTFONDS - IM INTERVIEW: AD VAN TIGGELEN, ING INVESTMENT MANAGEMENT

"Wir sind sehr defensiv aufgestellt"

Der Senior Investment Specialist über die Lage an den Aktienmärkten, die Situation in der Eurozone und die Zukunft von Finanztiteln

"Wir sind sehr defensiv aufgestellt"

Es ist die Zeit der Entscheidung: Wenn sich abzeichnet, ob die Eurozone in eine Rezession abrutscht oder nicht, wird es an den Aktienbörsen nochmal rundgehen, sagt Ad van Tiggelen, Senior Investment Specialist bei ING Investment Management. Eine Rezession bedeutet weitere Abschläge von 20 %, das Vermeiden der Rezession Kursgewinnpotenzial in gleicher Höhe.- Herr van Tiggelen, momentan sieht es so aus, als sei die Stabilität der Eurozone und die Stabilität des Euros in ernster Gefahr. Was ist denn Ihre Prognose für die europäische Wirtschaft?Wir gehen nicht von einem Ausschluss Griechenlands aus, und wir erwarten, dass der Euro erhalten bleibt. Trotz der schwierigen Lage ist eine Rezession für Europa nicht unser Hauptszenario, aber die Wahrscheinlichkeit wächst auch in unseren Prognosen. Wir gehen mittlerweile mit einer bis zu 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass Europa eine Rezession erlebt. Unsere Wachstumsprognose für die Wirtschaft der Eurozone liegt aber dennoch bei 1 %.- Was müsste passieren, damit die Eurozone in die Rezession rutscht?Es geht vor allem um die Frage, wie mit Griechenland und den übrigen Peripheriestaaten verfahren wird. Je länger die Unsicherheit anhält, je länger ernsthafte Schritte zu einer engeren Union hinausgezögert werden, desto länger halten die Investoren und Banken sich zurück und desto wahrscheinlicher wird eine Rezession.- Wie schätzen Sie die Gefahr der Inflation ein?Grundsätzlich gehören wir zum anderen Lager. Eine Deflation zumindest in den Industrieländern halten wir für wahrscheinlicher. Die Teuerung bei Nahrungsmitteln und bei Öl ist nur vorübergehend. Das sind temporäre Phänomene, und darüber hinaus sehen wir die Gefahr der Inflation kaum. Ein wesentlicher Inflationstreiber ist eine Lohnsteigerung, aber dafür ist in den meisten Ländern die Arbeitslosigkeit noch zu hoch. Wenn Löhne und Gehälter nicht stark steigen, und damit rechnen wir nicht, dann dürfte es auch keine Inflation geben.- Was erwarten Sie denn für die Aktienmärkte?Die Aktienmärkte haben zwar eine Rezession schon zu 50 % eingepreist, aber wenn man sich die Prognosen der Analysten anschaut, dann werden noch 10 % Gewinnwachstum erwartet.- Liegt das nicht daran, dass die Analysten Zeit brauchen, um die Prognosen zu revidieren?Es gibt dabei immer Verzögerungen, das ist richtig. Deshalb sehen Aktien derzeit auch so günstig aus. Wir erwarten ebenfalls, dass die Analysten die Gewinnerwartungen noch reduzieren werden.- Mit welcher Gewinnentwicklung rechnen Sie?Im besten Fall 0 %. Das hängt von der Entwicklung der Staatsschuldenkrise und damit mit der ökonomischen Entwicklung der Eurozone ab. Wenn wir eine Rezession bekommen, werden die Gewinne 2012 sinken.- Sind Aktien denn derzeit überhaupt zu empfehlen?Man darf nicht vergessen, dass die Unternehmen – Banken ausgenommen – von Rekordniveaus kommen. Selbst ein leichter Gewinnrückgang wäre daher kein Desaster. Das ist auch ein wesentlicher Unterschied zur Rezession der Jahre 2008 und 2009. Die Bilanzen der Unternehmen sind in einem deutlich besseren Zustand als damals. Wir rechnen daher auch nicht damit, dass Unternehmen aus der Realwirtschaft Probleme bei der Refinanzierung bekommen könnten. Daher sehen wir durchaus Titel mit gutem Potenzial.- Woher kommen die Aktien, auf die Sie setzen?Wir halten derzeit mittelfristig US-Aktien für attraktiver als Titel aus der Eurozone, weil wir in den USA eine Rezession für weniger wahrscheinlich halten. Außerdem gibt es andere politische Optionen. Die USA haben einen strukturellen Vorteil, weil die Regierung schneller handeln kann. Zudem bauen wir auf Schwellenländer.- Haben Sie bei den Schwellenländern besondere Präferenzen?Wir sind bei Brasilien und China untergewichtet, aber in Russland und Indien stark investiert. Das wechselt aber relativ oft. In China sind wir vorsichtig, weil es weniger Wachstum, aber eine anhaltend hohe Inflation gibt. Das Problem sehen wir in Indien so nicht, und Russland ist wegen des hohen Ölpreises nach wie vor attraktiv für uns.- Welche Sektoren sind für Sie interessant?Wir sind sehr defensiv aufgestellt und setzen auf hohe Dividenden. Wir halten vor allem Versorger, Telekommunikationswerte, Pharma und Basiskonsumgüter. Von Finanztiteln halten wir uns fern, auch wenn sie sehr günstig sind.- Warum greifen Sie dann nicht zu?Die Banken der Eurozone leiden am meisten unter der regulatorischen Unklarheit und der Hängepartie in Sachen Eurozone. Sollte der Rettungsfonds EFSF deutlich gestärkt werden und sollte es wirklich Eurozonen-Bonds mit gemeinsamer Haftung geben, dann wären Finanzaktien die großen Gewinner – dann sehe ich kurzfristiges Kurspotenzial von mindestens 50 %. Für besonders wahrscheinlich halten wir das allerdings nicht. Dafür sind die politischen Widerstände zu groß. Aber wer davon ausgeht, dass es Eurozonen-Bonds geben wird, der sollte wohl jetzt Finanzaktien kaufen.- Welches Potenzial sehen Sie denn in den übrigen Sektoren innerhalb der Eurozone?Das hängt davon ab, ob wir eine Rezession bekommen. Im Falle einer Rezession können die Aktien noch weitere 20 % fallen, und wir sehen mittelfristig 20 % nach oben Potenzial, wenn sich die Zeichen verdichten, dass eine Rezession in der Eurozone vermieden werden kann.- Was für eine Rendite lässt sich in der aktuellen Phase mit einem gemischten Aktienportfolio erwirtschaften?Wir erwarten eine jährliche Rendite von 6 bis 7 %. Davon dürfte die Hälfte aus Dividenden bestehen und die andere aus Kursgewinnen.—-Das Interview führte Martin Hampel.