Im InterviewOtmar Issing

"Es bedarf weiterer Zinserhöhungen der EZB"

Wie geht es weiter in Sachen Leitzinsen in der Eurozone? Darüber ringen die Notenbanker der EZB derzeit auf offener Bühne. Ex-EZB- und Bundesbank-Chefvolkswirt Otmar Issing hat da eine ganz klare Meinung.

"Es bedarf weiterer Zinserhöhungen der EZB"

Im Interview: Otmar Issing

“Es bedarf weiterer
Zinserhöhungen
der EZB”

Der Ex-EZB-Chefvolkswirt über die Inflation in Euroland, den Kurs der Notenbank und Lehren der Vergangenheit

Wie geht es weiter in Sachen Leitzinsen in der Eurozone? Darüber ringen die Notenbanker der EZB derzeit auf offener Bühne. Ex-EZB- und Bundesbank-Chefvolkswirt Otmar Issing hat da eine ganz klare Meinung: Die EZB müsse ihre Leitzinsen weiter anheben. Dabei geht es laut Issing auch um die Glaubwürdigkeit der Notenbank.

Herr Professor Issing, die Inflation im Euroraum ist im März deutlich von 8,5% auf 6,9% zurückgegangen. Ist damit endgültig die Trendwende geschafft oder wie beurteilen Sie die Aussichten für die Euro-Inflation?

Der deutliche Rückgang der Inflationsrate geschah gewissermaßen zwangsläufig. Der Anstieg der Energiepreise fällt im Vergleich zum Vorjahr sehr viel niedriger aus – der so genannte Basiseffekt. Dieser wird auch dazu führen, dass die Inflationsrate auch in den nächsten Monaten weiter deutlich zurückgehen dürfte. Diese Entspannung an der Inflationsfront ist einerseits zu begrüßen, darf andererseits aber auch nicht als endgültiger Sieg über die Inflation missverstanden werden. Die Quellen, die Treiber der Inflation haben sich verschoben.

Das heißt konkret?

Es stellt sich immer mehr heraus, dass der massive Anstieg der Energiepreise sich im Zeitablauf über die ganze Wirtschaft verbreitet hat. An die Stelle der durch die Einfuhr von Gas und Öl importierten Inflation treten zunehmend Preissteigerungen bei heimischen Produkten. Während die in der öffentlichen Wahrnehmung im Mittelpunkt stehenden Inflationsraten stark sinken, steigt die um die schwankenden Preise für Energie und Nahrungsmittel bereinigte Kerninflation sogar weiter und hat mit rund 5,5% ein Rekordniveau erreicht. Von einer Trendwende kann man erst dann sprechen, wenn die Kerninflation deutlich und dauerhaft zurückgeht.

Welche Mitschuld trägt die Europäische Zentralbank (EZB) an den aktuell hohen Inflationsraten? Hat sie zu spät reagiert oder hätte sie das alles gar nicht verhindern können?

Die Geldpolitik kann den Preisanstieg bei Energieprodukten nicht verhindern oder ungeschehen machen. Was aber inzwischen kaum mehr umstritten ist: Die EZB – übrigens in schlechter Gesellschaft von Fed und Bank of England – hat die Inflationsentwicklung zunächst falsch als vorübergehend eingeschätzt und zu spät mit Zinserhöhungen reagiert. Immerhin hat sie dann seit Sommer vergangenen Jahres entschlossen die Zinsen um nicht weniger als 350 Basispunkte erhöht.

Aktuell gilt die besondere Sorge einer Lohn-Preis-Spirale – nicht zuletzt angesichts der hohen Lohnforderungen in Deutschland derzeit, beispielsweise der 10,5% von Verdi für den öffentlichen Dienst?. Für wie groß halten Sie diese Gefahr und wie beurteilen Sie solche Forderungen?

Vielleicht sollte man im aktuellen Fall eher von einer Preis-Lohn-Spirale sprechen. Die hohen Lohnforderungen sind die Reaktion auf den starken Preisanstieg. Insoweit ist die Reaktion der Gewerkschaften alles andere als überraschend. Von den erwartbar hohen Abschlüssen werden neue preissteigernde Impulse ausgehen, vor allem bei Dienstleistungen. Für den weiteren Verlauf ist entscheidend, dass die Lohnentwicklung wieder auf einen stabilitätsgerechten Pfad zurückfindet, also Produktivitätsfortschritt plus Zuschlag für die Preisentwicklung in Höhe des Ziels der EZB von 2%. Hier zeigt sich ganz besonders die hohe Verantwortung der Notenbank für die gesamtwirtschaftliche Stabilität.

Zuletzt sind bei der Inflationsbetrachtung zunehmend auch die steigenden Gewinne der Unternehmen in den Fokus gerückt. Treiben diese die Inflation und braucht es einen faireren Lastenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern?

Das zeitliche Vorlaufen der Preise vor den Löhnen hat zwangsläufig die Gewinne der Unternehmen begünstigt. Es ist Aufgabe der Tarifpartner, unterstützt durch die Wettbewerbspolitik, zu einem neuen Gleichgewicht zurückzufinden.

Was bedeutet all das für die Zinspolitik der EZB? Kann sie angesichts des deutlichen Inflationsrückgangs seit Herbst nun etwas Tempo bei den Zinserhöhungen rausnehmen oder diese sogar schon stoppen? Oder erfordert die hartnäckige Kernrate noch deutlich höhere Leitzinsen?

Um die Kernrate der Inflation zu senken und schließlich wieder auf das Ziel von 2% zurückzubringen, bedarf es weiterer Zinserhöhungen. Man sollte nicht vergessen, dass die realen Zinsen immer noch deutlich negativ sind.

Inwiefern sollte die EZB bei ihren künftigen Zinsentscheidungen die jüngsten Bankenturbulenzen berücksichtigen? Bedeutet die Verschärfung der Finanzierungsbedingungen, dass der Höhepunkt im Zinszyklus niedriger liegen wird als zuvor erwartet?

Die Turbulenzen im Bankenbereich machen die Aufgabe der Geldpolitik gewiss nicht leichter. In der Wahl des Zeitpunkts und des Tempos der Zinserhöhungen wird die EZB zweifellos die Situation auf den Finanzmärkten berücksichtigen. Dabei spielt auch eine überzeugende Kommunikation eine wichtige Rolle. Letztendlich steht und fällt die Glaubwürdigkeit einer Notenbank mit dem Erfolg bei ihrer zentralen Aufgabe, der Erhaltung der Geldwertstabilität.

Einige Beobachter argumentieren, dass die EZB jetzt mit weiteren Zinserhöhungen Fehler aus den Jahren 2008 und 2011 wiederholen würde, als sie trotz aufziehender Weltfinanzkrise beziehungsweise Euro-Schuldenkrise die Zinsen anhob?

Diesen Bezug halte ich nicht für sinnvoll, schließlich waren die Bedingungen damals ganz anders. Wenn schon, dann sollte man bis in die 1970er Jahre zurückgehen, um zu sehen, wie Zögern bei der Inflationsbekämpfung am Ende in starker Rezession und hoher Arbeitslosigkeit endet.

EZB-Ratsmitglied Pierre Wunsch hat unlängst gesagt, dass die Euro-Wirtschaft seit vielen Jahren mit fiskalischer Dominanz „flirtet“. Ist die EZB gefangen in fiskalischer und finanzieller Dominanz?

Ich verstehe, wenn ein Notenbanker in der Wortwahl vorsichtig bleibt.

Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass sich die Inflation im Euroraum dauerhaft oberhalb des 2-Prozent-Ziels der EZB verfestigt? Die Zentralbank der Zentralbanken BIZ warnt vor einem neuen Inflationsregime?

Wir erleben in der Tat einen Regimewechsel. Nach 1990 hat die Globalisierung, nicht zuletzt mit dem Auftritt Chinas, einen weltweiten Druck auf Preise und Löhne ausgeübt. Diese Situation hat sich grundlegend geändert. Demografie, sich ausbreitender Protektionismus und geopolitische Spannungen werden dazu führen, dass der weltweite Preisdruck in die andere Richtung, nämlich in Richtung Inflation gehen wird. Die Rolle der Notenbanken wird zunehmend wieder alten Mustern gleichen, nämlich die Stabilität der Währung zu verteidigen.

Die Fragen stellte Mark Schrörs .

Von 1998 bis 2006 war ­Otmar Issing Chefvolkswirt der EZB – nachdem er zuvor acht Jahre lang in gleicher Funktion bei der Bundesbank tätig gewesen war. In dieser Zeit prägte er die Strategie und die Politik der EZB ganz wesentlich mit. Auch heute noch hat seine Stimme ein hohes Gewicht.