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Air Liquide hat einen langen Atem

Von Gesche Wüpper, Paris Börsen-Zeitung, 25.11.2015 Es ist ein Unternehmen, das unter vielen französischen Investoren lange Zeit als eine Art Sparbuch galt. Denn in den letzten Jahren konnten dem Gase-Spezialisten weder Wirtschaftskrisen noch...

Air Liquide hat einen langen Atem

Von Gesche Wüpper, ParisEs ist ein Unternehmen, das unter vielen französischen Investoren lange Zeit als eine Art Sparbuch galt. Denn in den letzten Jahren konnten dem Gase-Spezialisten weder Wirtschaftskrisen noch Modeeffekte etwas an der Börse anhaben. Fast schien es, als könnte nichts das Vertrauen der Märkte in Air Liquide erschüttern.Doch nun ist der Linde-Konkurrent unter Druck geraten, seit er in der vergangenen Woche die Übernahme des Wettbewerbers Airgas aus den USA angekündigt hat. So hat die Ratingagentur Standard & Poor’s (S & P) Air Liquide wegen der geplanten Akquisition unter negative Beobachtung gestellt. Sprung nach vornZwar wird Air Liquide dank der bisher größten Übernahme seit ihrer Gründung vor 113 Jahren ihren deutschen Rivalen Linde als weltweit umsatzstärksten Gase-Konzern ablösen, sich wieder im Flaschengeschäft verstärken können und Zugriff auf die innovativen Vertriebskanäle von Airgas bekommen. Das US-Unternehmen gilt in der Gase-Branche als Vorreiter in Sachen E-Commerce.Und doch finden viele Marktteilnehmer den Preis von 13,4 Mrd. Dollar zu hoch. Vor allem im Vergleich zu den 5,9 Mrd. Dollar, die der amerikanische Konkurrent Air Products vor fünf Jahren für Airgas zahlen wollte. Ein Spottpreis, sagte Airgas-Chef Peter McCausland damals und wehrte den feindlichen Übernahmeversuch mit Hilfe einer juristischen Giftpille ab.Der Preis, den das einst unter dem Namen L’Air liquide, société pour l’étude et l’exploitation des procédés Georges Claude gegründete Unternehmen zahlen will, entspricht einem Aufschlag von 50 % auf den durchschnittlichen Kurs von Airgas im Monat vor der Ankündigung der Übernahme. Verschuldung steigtDie Ratingagentur Standard & Poor’s geht davon aus, dass sich die Verschuldung des französischen Konzerns durch die Akquisition deutlich erhöhen wird. Denn drei Viertel des Übernahmepreises, der dem 13-Fachen des Ergebnisses vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen (Ebitda) von Airgas in den vergangenen zwölf Monaten entspricht, will Air Liquide mit Hilfe von Anleihen finanzieren, den Rest durch eine Kapitalerhöhung über 3 bis 4 Mrd. Euro. Letztere entspricht etwa 10 % des Börsenwerts des Konzerns. Ende Juni betrug die Nettoverschuldung des Konzerns 7,9 Mrd. Euro und erreichte damit fast 60 % der verfügbaren Eigenmittel.S & P könnte die langfristige und kurzfristige Kreditwürdigkeitsnote (“A+”/”A-“) von Air Liquide nun in den kommenden Monaten um jeweils zwei Stufen senken. Die Ratingagentur geht jedoch davon aus, dass sich das ohnehin exzellente Risikoprofil des Konzerns durch die Übernahme noch weiter verbessern wird und der Linde-Konkurrent auch in Zukunft solide Ergebnisse sowie einen stabilen Cash-flow liefern wird.Im ersten Halbjahr 2015 hat Air Liquide ihren Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 8,1 % auf 8,12 Mrd. Euro gesteigert. Das laufende operative Ergebnis legte um 12,3 % auf 1,41 Mrd. Euro zu, das Nettoergebnis um 12,5 % auf 849 Mill. Euro. Ist bei Airgas die Luft raus?Die Übernahme des US-Wettbewerbers kommt jedoch in einem Moment, in dem bei Airgas nach Ansicht von Beobachtern etwas die Luft raus ist. In den vergangenen Monaten hat das Unternehmen unter der Dollar-Stärke, dem weltweit schwächelnden Wachstum und dem niedrigen Ölpreis gelitten. Im zweiten Quartal des versetzten Geschäftsjahres 2016 steigerte Airgas ihren Umsatz um 1 % auf 1,4 Mrd. Dollar, genau wie das bereinigte Ergebnis je Aktie, das 1,31 Dollar betrug. Es sei schwer zu sagen, ob der Tiefpunkt erreicht sei oder ob sich Airgas auf eine weitere Verschlechterung einstellen müsse, sagte Konzernchef McClausland Ende Oktober bei der Präsentation der Ergebnisse.Air-Liquide-Chef Benoît Potier denkt jedoch in größeren Zeiträumen. Der amerikanische Markt biete langfristige Wachstumschancen, erklärte der Manager. Immerhin wächst der größte Gase-Markt weltweit im Schnitt um 4 % pro Jahr.Das Timing der Übernahme sei perfekt, meint Potier. Denn die USA seien gerade dabei, sich zu reindustrialisieren. Bisher sei Air Liquide in den Vereinigten Staaten mit großem Abstand den Konkurrenten hinterhergehinkt. So kam der Konzern dort bisher im Bereich Industriegase gerade einmal auf einen Erlös von rund 1 Mrd. Dollar. Durch die Übernahme werde Air Liquide jetzt jedoch auf einen Schlag Marktführerin für industrielle und medizinische Gase, betont Potier. Vorreiter im E-CommerceVor allem aber bekommt Air Liquide mit dem Deal Zugriff auf die Vertriebskanäle von Airgas. Das 1982 von Peter McCausland gegründete Unternehmen, das durch rund 450 Akquisitionen groß geworden ist, gilt in seiner Heimat in der Gase-Branche als Vorreiter in Sachen E-Commerce und Online-Bestellungen.Tatsächlich erinnert die Internetseite von Airgas an Online-Marktplätze wie Amazon. Handwerker, Werkstätten, aber auch Krankenhäuser können ihren Bedarf an Schweißzubehör oder Gasen dort online ordern. Airgas realisiert bereits jetzt 10 % ihrer Verkäufe über das Internet. Air Liquide dagegen testet diesen neuen Vertriebskanal bisher lediglich. So können Kunden im Rahmen des in einigen ausgewählten europäischen Ländern angebotenen Albee-Konzepts Gasflaschen online bestellen. Comeback mit Gasflaschen”Airgas ist fantastisch aufgestellt, um die Angebote von morgen in einem Markt entwickeln zu können, wo sich der Zugang zu Kunden mit neuen Vertriebskanälen und der Digitaltechnik verändert”, erklärte denn auch Air-Liquide-Chef Potier nach Bekanntgabe der Akquisition. Doch nicht nur deshalb ist Airgas für den französischen Konzern interessant. Durch die Übernahme wird Air Liquide auch das Flaschengeschäft wieder stärken können.Airgas ist in diesem verbrauchernahen Bereich stark aufgestellt, während Air Liquide dabei nach Ansicht von Branchenkennern Nachholbedarf hat. Im Grunde genommen handelt es sich für den französischen Konzern um eine Art Comeback, denn vor ein paar Jahren hatte er sein Geschäft mit Gas in Flaschen und Containern an Airgas verkauft, da es nicht die kritische Größe hatte. Durch die Übernahme, die noch von den Wettbewerbshütern abgesegnet werden muss, verschieben sich auch die Strukturen der Gruppe. So wird Amerika künftig zum wichtigsten Markt von Air Liquide mit 42 % der Aktivitäten, während Europa auf 37 % kommt.