Alibaba zieht in die Welt hinaus

Bewährungsprobe für ein chinesisches Erfolgsmodell im Internethandel - Taobao als Magnet für Kleinunternehmertum - Gewinnmaschine läuft auf Hochtouren

Alibaba zieht in die Welt hinaus

China ist das Land mit den erfolgreichsten Nachahmern von US-Internetanbietern. Grundlage dafür ist die geschickte Anpassung der Geschäftsmodelle an heimische Marktbedürfnisse. Nun will sich der Handelsplattformbetreiber Alibaba mit dem voraussichtlich weltgrößten Börsengang in New York zum Champion krönen lassen. Ob Alibabas Geschäftsmodell für einen weltweiten Marktauftritt taugt, ist allerdings noch eine offene Frage.Von Norbert Hellmann, SchanghaiEin kleinwüchsiger Chinese mit einer großen Kopfgeburt steht vor der Krönung seines Lebenswerks: Der von Jack Ma gegründete und über 15 Jahre beharrlich großgezogene chinesische Online-Händler Alibaba dürfte mit dem weltgrößten Börsengang in die Annalen eingehen. Und das auf amerikanischem Boden. Ein durch und durch chinesisch geprägter und auf den Heimatmarkt konzentrierter Online-Dienstleister soll in die Phalanx der weltgrößten und für Kapitalmarktinvestoren zugänglichen Internetunternehmen eintreten. AushängeschildIn China versteht man Alibaba als Aushängeschild für das Aufstreben der Privatwirtschaft im Reich der Mitte. Alibaba gilt als Paradebeispiel dafür, wie chinesische Firmen abseits der allgegenwärtigen Billigfertigung von Industriegütern auch in technologisch anspruchsvollen Sektoren in globale Dimensionen aufzurücken vermögen. Dabei schöpfen sie allerdings aus der Kraft des Konsumdrangs im bevölkerungsreichsten Land der Erde.Während die nackten Zahlen zu Umsatz, Gewinn und Ergebnisprojektionen aus Alibabas Börsenprospekten den Debütanten scheinbar mühelos auf eine Marktbewertung jenseits von 150 Mrd. Dollar und damit auf Augenhöhe zu Amazon oder Facebook bringen, fällt es Alibaba nicht ganz leicht, die dahinterstehende Erfolgsgeschichte und ihre Fortschreibung in einem internationalen Umfeld zu vermitteln. Gigantischer Online-BasarDer Name Alibaba ist tatsächlich der orientalischen Märchenwelt entlehnt und auf seine Weise Programm. Denn Alibabas Plattformen Taobao, Tmall und Alibaba.com für die im Internethandelsjargon gängigen Geschäftskategorien C2C (Consumer to Consumer) B2C (Business to Consumer) und B2B (Business to Business) verknüpfen sich zu einem gigantischen Online-Basar, der rund 8,5 Millionen private Händler mit einer regelmäßigen Kundschaft von derzeit rund 290 Millionen Nutzern zusammenbringt. Damit kommt Alibaba auf einen schwer vermittelbaren Marktanteil von knapp vier Fünfteln am chinesischen E-Commerce-Geschäft. PaketlawineAllein im vergangenen Jahr wechselten 14,5 Milliarden Produkte im Wert von 1,8 Bill. Yuan (rund 220 Mrd. Euro) via Alibaba-Plattformen die Hand. Das sind etwa 3 % des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Der dominierende amerikanische Detailhändler und weltgrößte Supermarktbetreiber Wal-Mart kommt mit seinem Warenumsatz auf eine Marke von etwa 0,3 % des US-Bruttoinlandsprodukts. Abgesehen davon hat Alibabas Geschäft starke Ausstrahleffekte auf andere Branchen, insbesondere die Logistik. Mittlerweile wird etwa die Hälfte des chinesischen Paketversands mit Transaktionen über Taobao generiert.Das über 15 Jahre zielstrebig verfolgte Ziel, die alles dominierende chinesische Online-Konsumplattform großzuziehen, wird nun von einer breiter angelegten Vision flankiert. Mit dem Entree in neue Geschäftsfelder vom mobilen Webbrowser und Suchmaschinen über Unterhaltungsangebote, Online-Spiele, Video-Streaming und Taxiruf-Apps bis hin zu Online-Finanzdiensten will sich Alibaba zu einem alles umspannenden Internetkonzern wandeln. Chinas Internet-TriumviratDerzeit gibt es in China neben Alibaba zwei weitere Internetkonzerne, die auf Basis von starken Plattformen in diese Richtung gehen, nämlich Baidu und Tencent. Baidu ist in ihrem Kerngeschäft, dem Suchmaschinenbetrieb mit einem Alleinstellungsmerkmal, in China mit Google vergleichbar. Tencent betreibt mit den zu sozialen Medien und Online-Spiel-Plattformen ausgebauten Messaging-Diensten QQ und Wechat ein Kommunikationsnetz, das sich mit einer Verschmelzung aus Facebook, Whatsapp und Twitter vergleichen ließe. Beide Adressen trachten nun danach, ihre Plattformen zunehmend auch für E-Commerce-Dienste einzusetzen, während Alibaba genau den umgekehrten Weg geht und ihre dominierenden Online-Handelsdienste mit Dienstleistungen aus dem Kernbereich von Baidu und Tencent anzureichern versucht.Im Herzen von Alibaba stehen mit den Online-Handelsplattformen Taobao und Tmall zwei Umsatz- und Gewinnmaschinen, die beim Versuch, chinesische Internetunternehmen in gängige Silicon-Valley-Schubladen einzuordnen, zum Vergleich mit Ebay und Amazon animieren. Aber der Vergleich hinkt ein wenig. SchnäppchenkaufTaobao bringt zwar wie Ebay Käufer und Verkäufer aus der Privatszene zusammen, kennt aber keinen Versteigerungsmodus zur Entledigung privaten Gerümpels. Vielmehr bringt Taobao einige Millionen Chinesen in eine Mini-Unternehmerrolle als Gründer von Online-Boutiquen für alle erdenklichen Waren – sei es Katzennahrung, Jadeschmuck, Pingpongschläger, Smartphones oder Baumaterialien -, die von Alibabas komplexer Dateninfrastruktur in einem erstaunlich übersichtlichen Internetkatalog dargeboten werden. Ihnen gegenüber stehen einige hundert Millionen Chinesen, die sich von Taobao zum gezielten und bequemen Schnäppchenkauf wie auch zum Browsing-Erlebnis als Zeitvertreib verleiten lassen.Tmall wiederum ist mehr ein virtuelles Einkaufszentrum für alle erdenklichen Markenprodukte etablierter Firmen, die sich damit im chinesischen Markt einen selbst aufgezogenen Versandhandelsauftritt sparen können. Gleichzeitig bietet sich Tmall als Schaufenster für Waren an, die anschließend in herkömmlichen Einkaufszentren erworben werden können.Die Vielfalt des Warenangebots mag mit Amazon vergleichbar sein, doch ist Alibaba im Gegensatz zu dem US-Riesen selbst kein Warenverkäufer, sondern stellt lediglich eine technologische, logistische und auch zahlungstechnische Infrastruktur sowie ein interessantes Werbeumfeld bereit. Die Umsätze und Gewinne entstehen also nicht direkt aus Verkaufserlösen, sondern aus den daran geknüpften Transaktionsgebühren, den Werbeanzeigen, die auf Taobao- und Tmall-Anbieter verweisen und Kommissionen aus der Erteilung von Lizenzen beziehungsweise der “Ladenmiete” für Softwarenutzung und Wahrung der Internet-Shops. Abwicklung aus einem GussAlibaba sorgt gleichzeitig dafür, dass via das hauseigene Bezahlungssystem Alipay (vergleichbar mit Ebays Paypal) und eine angegliederte Logistikinfrastruktur für den Warenversand die Transaktion aus einem Guss abgewickelt wird. Da Alibaba kein eigener Warenverkäufer mit typischerweise schmalen Detailhandelsspannen ist, sind die operativen Margen hoch und liegen im mittleren zweistelligen Bereich.Tmall spürt mittlerweile einen härteren Konkurrenzdruck von Internethändlern wie der im Frühjahr an die US-Börse Nasdaq gegangenen JD.com sowie Chinas führenden Elektronikwarendetailhändlern, die ihren Radius auf andere Waren erweitern. Der riesige Taobao-Basar hingegen genießt ein wenig angreifbares Alleinstellungsmerkmal und gilt als chinesisch geprägtes Einkaufserlebnis der Neuzeit. Als Arbeitgeber ist Alibaba mit rund 22 000 Beschäftigten nicht die ganz große Nummer, doch versteht Jack Ma die Alibaba-Plattformen als Marktplätze, die einer Vielzahl von Chinesen eine Existenzmöglichkeit bieten und damit auch eine soziale Funktion wahrnehmen. “Every day we are fighting for the little guy”, hört man Ma in einem Filmclip sagen, mit dem Investorentreffen zur Bewerbung des Börsengangs eingeleitet werden. Hartes RegimentDie Vielzahl der “little guys” kann allerdings ein eigenes Lied davon singen, wie die teils drakonischen Auflagen des “Ladenvermieters” Alibabas dafür sorgen, dass Taobao-Anbieter praktisch rund um die Uhr und das ganze Jahr dafür sorgen müssen, dass ihr Laden offen bleibt, Umsätze macht und positive Kundenbewertungen erhält. Denn es schwingt die permanente Drohung mit, dass Alibaba die Taobao-Lizenz entzieht und alle Anlaufkosten à fonds perdu sind.Taobao ist ein gutes Beispiel dafür, wo die eigentlichen Gefahren für das Geschäftsmodell von Alibaba liegen, nämlich weniger im Gegenangriff von rivalisierenden Online-Marktplätzen oder gar einem Desinteresse der Konsumenten als vielmehr in einer internen Verschlechterung des Geschäftsumfelds. Im latenten Würgegriff der Alibaba-Regelwelt befinden sich die Taobao-Händler oft in einem mörderischen Wettbewerb untereinander, der vielen “little guys” kein profitables Auskommen ermöglicht und sie zur Aufgabe zwingt. Nach einer Abwanderungswelle würde das Alibaba-Geschäft aber rasch an Umdrehungen verlieren. Danach sieht es derzeit freilich nicht aus. Umsätze und Gewinne verzeichnen kräftige Steigerungsraten.In dem zum 30. Juni abgelaufenen Quartal schoss der Gewinn von Alibaba auf 12,5 Mrd. Yuan hoch. Dabei spielten zwar Sondergewinne aus der Neubewertung von Beteiligungen eine Rolle, doch ist die Tatsache, dass Alibaba mehr als doppelt so viel wie Amazon und Ebay zusammen verdienen konnte, auch so eine echte Marke. Trotz zuletzt stark anziehender operativer Kosten, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufrüstung des mobilen Zugangs zu Alibaba-Diensten und erhöhter Marketingkosten, liegt die operative Marge noch bei über 50 %. Ma bläst zum AngriffOb Alibabas Geschäftsmodell das Zeug zum globalen E-Commerce hat, ist noch offen. Der Börsengang gilt aber in jedem Fall als Ouvertüre für globale Ambitionen. Jack Ma ist dabei mit Blick auf unterschiedliche Interessentenkreise etwas doppelzüngig. Auf der einen Seite bekräftigt er, dass der in Sachen E-Commerce noch sehr expansionsfähige und wachstumsstarke chinesische Markt oberste Priorität hat, und unterstreicht seine “Mission”, neue Konsumgewohnheiten als einen Beitrag zu positiven sozialen Veränderungen im Reich der Mitte zu forcieren. Auf der anderen Seite aber wird die Vision eines globalen Exports seines Erfolgsmodells und chinesischer Internetinfrastruktur verbreitet. Dabei spricht Ma gar von einer aggressiven Expansion auf dem amerikanischen Markt und von Ambitionen, auch in Europa präsent zu werden. Eine eindeutige Stoßrichtung ist allerdings noch nicht erkennbar.Eine denkbare Variante wäre die explizite Erschließung des Potenzials bei den vielen Millionen chinesischstämmiger Kunden außerhalb Chinas. Im Zweifelsfall wird Alibaba die Akquisitionsschiene wählen, um einen stärker internationalen Auftritt anzugehen. Die Kriegskasse ist spätestens nach der gewaltigen Kapitalaufnahme aus dem Börsengang in jedem Fall gefüllt. Allerdings tritt damit auch die eigentliche Stärke von Alibaba, nämlich die bedingungslose Fokussierung auf ein klar umrissenes und mit hauseigener Technologie perfekt unterstütztes E-Commerce-Modell, in den Hintergrund. Alibaba läuft deshalb Gefahr, sich am Ende selbst in seinem zu bunt gemischten und wahllos globalisierten Internetbasar zu verirren.