IM BLICKFELD

Atomstrom kommt Japan teuer zu stehen

Von Martin Fritz, Tokio Börsen-Zeitung, 27.11.2018 Auf dem zerfetzten Dach von Reaktor 1 greift eine mächtige Zange, die an einem Kranhubseil hängt, nach Betonteilen und Metallstreben. An der Westseite von Reaktor 2 wurde ein Vorbau angedockt und...

Atomstrom kommt Japan teuer zu stehen

Von Martin Fritz, Tokio Auf dem zerfetzten Dach von Reaktor 1 greift eine mächtige Zange, die an einem Kranhubseil hängt, nach Betonteilen und Metallstreben. An der Westseite von Reaktor 2 wurde ein Vorbau angedockt und die Wand des Reaktorgebäudes geöffnet. Über Reaktor 3 thront eine röhrenförmige Kuppel mit einem Bergungskran. So sehen heute die drei kaputten Reaktoren des Atomkraftwerkes Fukushima Nummer 1 fast acht Jahre nach den Kernschmelzen vom März 2011 aus.Seitdem wurde viel erreicht. Die Kühlung der zerstörten Meiler funktioniert, es fließt kein kontaminiertes Wasser mehr ins Meer. Schutzanzüge und Atemmasken müssen die aktuell 4 200 Arbeiter nur noch in unmittelbarer Nähe der Reaktoren tragen. Dort bleibt die Strahlung auf Jahrzehnte lebensbedrohlich hoch, so dass alle Arbeiten ferngesteuert stattfinden. In 900 Tanks lagern jeweils bis zu 1 200 Tonnen gereinigtes Kühlwasser, die Betreiber Tepco am liebsten ins Meer leiten möchte. Als nächste große Schritte werden die 1 573 benutzten Brennelemente aus den Abklingbecken oben in den Kraftwerksgebäuden geholt und Methoden zur Bergung des geschmolzenen Brennstoffs in den Reaktorbehältern ausprobiert.Noch viele Jahre wird der zerstörte Atomkomplex an der japanischen Pazifikküste die größte und teuerste Industriebaustelle des 21. Jahrhunderts bleiben. 2 Bill. Yen (15,5 Mrd. Euro) sind schon ausgeben, jährlich kommen 220 Mrd. Yen (1,7 Mrd. Euro) dazu. Insgesamt wird die Stilllegung des AKWs Fukushima Nummer 1 offiziell geschätzte 8 Bill. Yen (62 Mrd. Euro) kosten, zwei Fünftel der gesamten Katastrophenkosten von 21,5 Bill. Yen. Dazu kommt noch die Stilllegung des nahegelegenen Atomkraftwerks Fukushima Nummer 2 mit vier Reaktoren für zusätzliche 280 Mrd. Yen (2,2 Mrd. Euro).Doch diese schockierend hohen Zahlen haben weder Stromversorger noch Regierung zum Nachdenken über den Einsatz der Nuklearenergie gebracht. Das berüchtigte “Atomdorf” aus Beamten, Managern und Wissenschaftler schämt sich längst nicht mehr für die selbstverantwortete Katastrophe, sondern präsentiert die technischen Fortschritte in Fukushima mit Stolz. Das AKW wird jährlich 10 000 Besuchern, darunter 1 000 Ausländern, vorgeführt. Immer noch behauptet das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI), Atomstrom sei billiger aus Solarstrom, weil es die Folgekosten der Fukushima-Kernschmelzen nicht mitrechnet.Dabei ächzt die gesamte Atomindustrie unter den finanziellen Lasten der notwendigen Nachrüstungen und Stilllegungen. Das hält die Strompreise hoch. Die nach der Katastrophe abgeschalteten Meiler brauchen alle eine neue Betriebserlaubnis. Ihr Neustart ist nur möglich, wenn die verschärften Sicherheitsauflagen erfüllt werden – von Mauern gegen Tsunamis über wasserdichte Türen und breite Feuerschneisen bis zu Notstromaggregaten und tornadosicherem Kontrollzentrum. Daher stehen alle sieben Stromversorger in Japan vor der Wahl, ob sie ihre Atommeiler weiter nutzen oder stilllegen.Die Nachrüstung rechnet sich nur bei relativ neuen Meilern mit einer hohen Leistung. Tepco investiert zum Beispiel 680 Mrd. Yen (5,3 Mrd. Euro) in neue Sicherheitstechnik für die zwei erst 22 Jahre alten Reaktoren 6 und 7 in Kashiwazaki-Kariwa, die je 1 315 MW erzeugen. Dagegen legt Tohoku Electric den Reaktor 1 im AKW Onagawa still, weil er nur 524 MW erzeugt und schon 37 Jahre alt ist. Maximal 60 Jahre Betriebszeit sind möglich. Die 10 Tepco-Meiler in Fukushima nicht mitgezählt, wurde für zehn Reaktoren das Aus verkündet. Ihr Rückbau dauert 40 Jahre und kostet geschätzte 700 Mrd. Yen (5,4 Mrd. Euro). Die Finanzierung wird teuer, weil die Konzerne die einst gebildeten Rückstellungen für die Stilllegungen längst ausgegeben haben. Dazu kommt der Aufwand für die Nachrüstungen: Insgesamt werden 4 Bill. Yen (31 Mrd. Euro) investiert. Neun Reaktoren sind schon am Netz. Laut einer Reuters-Studie kommen aber nur sechs Einheiten in den nächsten fünf Jahren dazu.Unterm Strich bedeutet dies massive Belastungen für die Stromkonzerne: In fünf Jahren werden erst 15 von voraussichtlich 34 noch nutzbaren Reaktoren Strom erzeugen. Das ist nur jede vierte der 54 Anlagen, die vor Fukushima liefen. Zugleich werden 20 Einheiten stillgelegt. Daher müssen die Konzerne auch künftig enorme Summen für Ersatzstrom aus fossilen Quellen aufwenden. Die ursprüngliche Hoffnung, diese Energieimporte schnell wieder durch Atomstrom zu ersetzen, wird sich also noch sehr lange nicht erfüllen. Selbst 2030 werden laut der Reuters-Studie keine 30 Reaktoren laufen, so dass das offizielle Ziel von 20 bis 22 % Atomanteil am Strommix nicht erreicht wird.Auch die Regierung verfolgt den alten Kurs weiter. Vor kurzem hat sie den USA versprochen, ihren Plutoniumvorrat von 47 Tonnen – genug für 6 000 Atombomben – abzubauen. Dabei hat die Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho mit Baukosten von 2 Bill. Yen (15,5 Mrd. Euro) noch keinen einzigen Tag funktioniert. Die kleinere Aufbereitungsanlage Tokai soll für 800 Mrd. Yen (6,2 Mrd. Euro) abgebaut werden.Im April wurde auch das Aus für den Schnellen Brüter Monju verkündet. Japan besitzt auch keine einzige Lagerstätte für radioaktive Abfälle. Dafür liegen noch nicht einmal realistische Kostenschätzungen auf dem Tisch, obwohl in den Atomkraftwerken bald kein Platz mehr für die Abfälle ist.