Auch die Ausbildung wird digital
Von Joachim Herr, MünchenDie Vorteile leuchten ein: Wenn Mitarbeiter der Deutschen Bahn im virtuellen Raum die Handgriffe für den neuen ICE 4 üben, kann der echte Schnellzug auf der Strecke bleiben. Und nur mit solchen Simulationen lassen sich gefährliche Situationen und Unfälle nachempfinden.”Virtuelle Trainingsräume kann man sich wie ein Fitnessstudio vorstellen”, sagt Lars Tiedermann, Entwickler von DB Systel, dem IT-Dienstleister der Bahn. Zutritt bekommt man mit einer sogenannten Virtual-Reality-Brille, bekannt vor allem aus künstlichen Spiele- und Einkaufswelten. Der Trainer zeige die richtigen und effizienten Bewegungsabläufe, die Azubis und die Mitarbeiter, die geschult werden, übten, berichtet Tiedermann.Neu im ICE 4 ist zum Beispiel ein Lift an den Türen für Fahrgäste im Rollstuhl. Immerhin 28 Handgriffe müssen für das Bedienen gelernt werden. Dank der VR-Brillen geht das relativ schnell und einfach. Auf das Üben in der realen Welt, also im oder am Zug, wird allerdings nicht ganz verzichtet. “Der Einsatz in der Praxis ist immer noch wichtig”, betont Tiedermann.Für den ICE 4 haben bisher rund 500 Mitarbeiter im Bordservice das Training im virtuellen Raum absolviert. Bis 2020 sollen auf diese Weise alle 4 000 Zugbegleiter im Fernverkehr der Bahn geschult werden. Wie die Bahn nutzen andere Unternehmen mittlerweile virtuelle Schulungsräume.Viscopic, eine Start-up-Firma in München mit 17 Mitarbeitern, entwickelt dafür sogenannte Augmented-Reality-Lösungen. Mit dieser Technik werden 3-D-Darstellungen von Bauteilen oder Maschinen in einen virtuellen Raum projiziert und mit einer Spezialbrille, der Hololens von Microsoft, sichtbar. “Wir erweitern die reale Welt um digitale Informationen”: So erklärt Marco Maier, der Geschäftsführer und einer der Gründer, die Idee von Viscopic. Einsatz in der RobotikAuf der Liste des erst zwei Jahre alten Unternehmens stehen renommierte Kunden aus der Industrie: unter anderem ABB, Audi, BMW, Daimler, Siemens, VW. In den Volkswagen-Akademien zum Beispiel lernen Auszubildende das Bedienen der in der Produktion eingesetzten Roboter – und sie auszutauschen, falls einer defekt ist. “Das Training ist an jedem Ort möglich”, berichtet Maier. Und ungefährlicher als mit den echten Robotern: “Da gab es schon Unfälle.” ABB nutzt die Lösung von Viscopic ebenfalls in der Robotik fürs Training, Autohersteller für das Einlernen von Mitarbeitern in der Fertigung und Siemens in der Bahntechnik, wie Maier erzählt.Mit diesen modernen Lernmethoden wollen die Unternehmen auch das Interesse von mehr jungen Menschen für ihre Ausbildung wecken. Angesichts des demografischen Wandels wird der Wettbewerb um die Nachwuchskräfte schärfer. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren Ende August 148 500 Lehrstellen unbesetzt. Auf der anderen Seite suchten 91 400 Bewerber noch. Die BA nimmt an, dass Ende September die Zahl der gemeldeten Stellen erstmals seit der Wiedervereinigung die der gemeldeten Bewerber leicht übertrifft.Tendenziell sinkt seit längerem die Zahl der Bewerber für eine Ausbildungsstelle, während die Zahl der Stellen zunimmt (siehe Grafik). Ein Grund für das Auseinanderdriften ist die Beliebtheit eines Studiums: Die Zahl der Studenten stieg hierzulande zuletzt auf den neuen Rekordwert von mehr als 2,8 Millionen.Die Digitalisierung bietet nicht nur Chancen, um die Ausbildung attraktiver zu gestalten. Sie mache sie auch komplexer und teurer, hieß es vor kurzem auf einem Kongress des Bundesinstituts für Berufsbildung. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sei dies eine Herausforderung.Den großen fällt es leichter, neue Lernmittel und -methoden einzusetzen. Siemens berichtet, seit dem vergangenen Jahr für die neuen Auszubildenden Themenfelder der Digitalisierung einzubinden: zum Beispiel Datenanalyse und -sicherheit sowie Softwareentwicklung. “Dabei wurde auch die didaktische und methodische Vermittlung überarbeitet.”In Deutschland sind in dieser Woche an 20 Siemens-Standorten 2 170 junge Menschen ins Berufsleben gestartet – als Azubis oder mit einem dualen Studium. Die Technik- und IT-Berufe dominieren wie in den Vorjahren mit einem Anteil von rund 80 %. Doch nicht nur die Industrie stellt sich in der Aus- und Weiterbildung auf die Digitalisierung ein: Die Stadtsparkasse München zum Beispiel bietet einen neuen Ausbildungsgang für Kaufleute im E-Commerce an. “Wissen erhalten”Der Schwerpunkt der Deutschen Bahn liegt auf klassischen Tätigkeiten und Berufen sowie auf einer effizienten Ausbildung, ohne den Betrieb auf der Schiene aufzuhalten. Der Bedarf ist groß angesichts der Altersstruktur im Konzern. Von den 8 000 Wartungstechnikern, die das Schienennetz instandhalten, beendet bis zum Jahr 2026 die Hälfte das Arbeitsleben. “Es geht deshalb nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern es auch zu erhalten”, betont Tiedermann von der IT-Tochterfirma DB Systel. Mit der Technik von Viscopic und den Spezialbrillen wird trainiert, wie Weichenstörungen rasch behoben werden. Wenn das dann in der Realität klappt, hätten auch Bahnfahrer etwas von der digitalen Aus- und Weiterbildung.