Aus Europas Einhörnern wird eine Herde
cru Frankfurt – Deutsche Städte wie Berlin, München oder auch Köln und Düsseldorf konkurrieren inzwischen nahezu ebenbürtig mit London und Paris um die Position als Europas führende Drehscheibe für Technologie-Start-ups. Das zeigt eine Liste aller Jungunternehmen mit einer Marktbewertung – vor einem Börsengang oder einem Exit – von mehr als 1 Mrd. Dollar des Analysehauses CBInsights. Insgesamt stehen auf der Liste 501 sogenannte Einhörner. “Davon kommen 68 aus Europa – also rund 14 %”, sagt Wagniskapital-Experte Nikolas Westphal von der auf Technologieunternehmen spezialisierten Investment-Banking-Boutique Clipperton.Laut einer Studie von EY haben 63 der Top-100-Start-ups in Deutschland ihren Sitz in Berlin. Aber es tut sich etwas auch an anderen Orten in Deutschland. “Der deutsche Tech-Start-up-Markt ist inzwischen unglaublich tief und vielfältig, aber auch sehr regional. Business to Consumer Firmen finden sich meist in Berlin. Business to Business spielt hauptsächlich in München. Man muss vor Ort sein, um die Unternehmen zu verstehen. Firmen, deren Geschäftsmodell auf Deep Tech oder Artificial Intelligence basiert, finden sich oft in den Städten mit Technischen Universitäten”, skizziert Westphal die regionale Verteilung der Start-ups.Der ehemalige Morgan-Stanley-Mann hat gerade die zu Natixis gehörende Boutique Clipperton, die ihr Geschäft hierzulande und in den USA kräftig ausbaut, als Partner im Büro in Berlin verstärkt. Allein vier Finanzierungsrunden oder M&A-Deals hat Clipperton für die nächsten sechs Monate in Vorbereitung. 27 TeilmärkteNach anderen Berechnungen ist die Einhorn-Szene in Europa sogar noch größer: Das Analysehaus Atomico ist großzügiger als CBInsights und zählt 99 Einhörner in Europa, das wären 20 % von allen. Europas Wagniskapitalmarkt gilt indes als schwieriger zu handhaben als China oder die USA – wo 80 % der Einhörner beheimatet sind -, weil es in Europa 27 Teilmärkte gibt. “Häufig helfen wir europäischen Firmen, US-Investoren als neue Anteilseigner zu finden”, sagt Westphal. “Wer in New York an die Börse geht, wird eher als internationales Unternehmen wahrgenommen.” Die Bukarester Automatisierungsfirma Uipath beispielsweise strebt deshalb in New York an die Börse. An Uipath, Europas erstem “Dekacorn” mit mehr als 10 Mrd. Euro Bewertung, ist unter anderem der deutsche Wagniskapitalgeber Earlybird beteiligt.Die am weitesten oben auf der globalen Einhorn-Rangliste stehenden deutschen Firmen sind die Softbank-gestützte Auto1 Group sowie die Healthcare-IT-Firma Otto Bock und die Smartphone-Bank N26. Noch vor einem Jahrzehnt schien die rasante Entwicklung unwahrscheinlich. Berlin hatte kaum eine Basis für Venture-Capital-Investoren. Die ersten wagniskapitalfinanzierten Erfolge waren oft Imitationen von amerikanischen E-Commerce-Firmen. Zu diesem Ruf trug Rocket Internet bei, die in Berlin ansässige “Klonfabrik”, die Geschäftsmodelle der US-Online-Firmen übernommen hat. Inzwischen gibt es eine Verlagerung weg von Klonen der US-Geschäftsmodelle für Verbraucher (Business to Comsumer) hin zu Tech-Start-ups, die Unternehmen dienen (Business to Business). Risikokapital war früher in Deutschland knapp. In Berlin gab es keine großen einheimischen Technologieunternehmen. Inzwischen jedoch haben manche Wagniskapitalgeber und Unternehmer in der Hauptstadt einen vergleichbaren Status wie kleine Rockstars.Die Pandemie mit den Lockdowns hat dazu beigetragen: Der Kochboxenversender Hellofresh bringt es auf eine Marktkapitalisierung von 10 Mrd. Euro und der Essenslieferdienst Delivery Hero hat es sogar in den Dax geschafft.Trotz der Coronakrise sind im ersten Halbjahr 2020 mehr Start-ups in Deutschland finanziert worden, nur die investierte Summe ist gesunken. Die Zahl der Finanzierungsrunden ist um 8 % auf 360 gestiegen, geht aus dem Start-up-Barometer der Beratungsgesellschaft EY hervor. Das Investitionsvolumen sank im Vergleich jedoch um mehr als ein Fünftel auf 2,2 Mrd. Euro. Zwar konnte Berlin im Halbjahr die Position als Deutschlands führender Start-up-Standort behaupten, allerdings verringerte Bayern den Abstand zur Hauptstadt deutlich. Berlin dominiertDie bisher in Deutschland noch dominierende Berliner Venture-Capital-Szene entstand in den Jahren nach der Finanzkrise 2008. Die Stadt hatte drei Vorteile: Sie bot günstige Büroflächen, galt als hip und zog junge Talente aus aller Herren Länder an. Berliner Venture-Capital-Firmen investieren mittlerweile auch in Start-ups in anderen europäischen Städten. Ein Großteil des Geldes, das sie einsetzen, kommt von außerhalb Europas – aus Amerika oder Asien. Auch die Bundesregierung bringt sich inzwischen ein: Ihr Konjunkturpaket beinhaltet ein eigens aufgesetztes und 2 Mrd. Euro schweres Unterstützungspaket für Start-ups. Darüber hinaus gibt es Hoffnungen auf eine Änderung der steuerlichen Behandlung von Aktienoptionen als Bezahlung für junge Talente.