WACHSTUM IN ZEITEN DER DISRUPTION

Autobranche legt den Schalter um

Nach jahrelangem Zögern erkennen plötzlich alle Hersteller ihre Zukunft in der Elektromobilität

Autobranche legt den Schalter um

Von Peter Olsen, FrankfurtAuf der Straße sind sie nach wie vor kaum anzutreffen. Aber ihnen gehört dessen ungeachtet die Zukunft: Die Autoindustrie setzt auf rein elektrisch betriebene Fahrzeuge. Für Ingenieure, Beschäftigte und Manager ist das ein Kulturschock, ging es doch in der automobilen Technik jahrzehntelang vor allem darum, die immer diffiziler ausgelegten Antriebsstränge aus Motoren, Getrieben und Abgasanlagen zu optimieren und auf immer neue Vorgaben der Regulierer anzupassen.Das kostete natürlich einiges an Forschung und Entwicklung, sicherte aber Beschäftigung, Wachstum und Rendite. Dass es mit den herkömmlichen Antrieben auf Dauer nicht so weitergehen würde, war natürlich den Entscheidern schon seit Jahren klar. Aber wohin genau die Reise gehen würde, blieb lange offen, zumal alternative Antriebe wie Wasserstoff, Hybride und die Brennstoffzelle auf dem Weg zum möglichst emissionsfreien Fahren mit im Rennen waren, nun aber vorerst ins Hintertreffen geraten. Fahrverbote drohenDrohende Fahrbeschränkungen für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren in Megacitys wie in China, aber auch erste Fingerzeige für Dieselverbote in Paris und anderswo in Europa sowie die Langstrecken-tauglichen Angebote des US-Elektroautopioniers Tesla haben spätestens mit dem Pariser Autosalon in diesem Jahr das batterieelektrische Auto zum “Must-have” gemacht. Bei BMW heißt die E-Reihe “i”, wobei dem vorgepreschten “i3” der große Markterfolg bis heute nicht gelungen ist. Daimler kündigt seine E-Mobile unter “EQ” an, und Volkswagen will von 2020 an mit den “ID” genannten Fahrzeugen rasch zum Weltmarktführer aufsteigen und den Anteil dieser E-Autos auf ein Viertel des Gesamtabsatzes hochtreiben. “Jetzt legen wir den Schalter um”, sagte Daimler-Chef Dieter Zetsche in Paris. Der neue Schwung zeigt sich auch in den plötzlich deutlich positiveren Einschätzungen für die Entwicklung der Elektromobilität (siehe Grafik). Finanzen unter DruckDieser Wandel trägt ganz klar Züge einer Disruption, obwohl die herkömmlichen Verbrennungsaggregate noch für viele Jahre die auf absehbare Zeit für die Hersteller nicht profitablen Elektroautos alimentieren müssen. Die Ratingagentur Standard & Poor’s weist deshalb auch darauf hin, dass die immensen Belastungen aus Investitionen in Elektromobilität, Digitalisierung, Konnektivität, autonomes Fahren und mobile Dienste die Finanzprofile der Gesellschaften belasten dürften. Die neuen technischen Herausforderungen brächten mindestens genauso viele Risiken wie Chancen. “Einige Hersteller werden profitieren, aber andere werden gewiss leiden”, prognostiziert S & P.Am raschsten dürften sich die E-Fahrzeuge in China, wegen der zu erwartenden strengen Abgasvorgaben, sowie in Europa durchsetzen. In Europa hilft die im Vergleich zu den USA deutlich höhere Besteuerung der konventionellen Kraftstoffe dabei, die Akzeptanz von Elektroautos voranzubringen. Auch drohen hier mit den CO2-Vorgaben der EU hohe Strafzahlungen, wenn die Flottenverbräuche nicht bis 2021 deutlich gesenkt werden.Wer margenträchtige, aber vergleichsweise schwere sportliche Geländewagen (SUV) in hohen Stückzahlen verkaufen will, muss zum Ausgleich in großem Stil emissionsfreie elektrische Angebote machen. Der von den Herstellern bislang für den Übergang favorisierte Plug-in-Hybrid, der gleichsam beide Welten – Verbrennungs- und Elektromotor – mit viel Gewicht auf die Straßen schicken soll, gilt mittlerweile als zu teuer und nicht effizient genug, um die Abgashürden zu erfüllen. Jobs auf der KippeDie nicht ganz freiwillige Hinwendung zu den batterieelektrischen Fahrzeugen krankt aber nach wie vor am bisher sehr dürftigen Modellangebot und den zugleich prohibitiv hohen Preisen. Vor allem die für die Langstrecke nötigen Batteriepacks im Unterboden wiegen bis zu einer halben Tonne und beanspruchen durchaus ein Drittel der Wertschöpfung eines Elektroautos.Fortschritte in der Energiedichte der Akkus bei gleichzeitiger Kostensenkung gelten als zwingende Voraussetzung für einen Erfolg. Brüche entlang der Wertschöpfungskette sind absehbar. Auf Verbrennungsmotoren und Bauteile dafür, Getriebe und Abgasanlagen spezialisierte Zulieferer werden sich sputen müssen, das Elektrozeitalter nicht zu verpassen (siehe untenstehenden Bericht).Dennoch scheint schon jetzt sicher, dass die Disruption Arbeitsplätze kosten wird. Schätzungen reichen bis zu 100 000 Stellen – jede achte in der Branche hierzulande. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Automobilbranche für die deutsche Industrie fehlt es noch an Konzepten, wie der Wandel ohne Beeinträchtigungen für die Volkswirtschaft gestaltet werden kann.Betriebsräte der großen Hersteller kämpfen darum, dass die heute vorwiegend aus Asien bezogenen Batteriezellen künftig in Europa/Deutschland produziert werden. “Wenn wir nicht rechtzeitig handeln, werden es mehr Verlierer als Gewinner sein, auch bei den Zulieferern”, sagte Michael Brecht, Betriebsratschef bei Daimler, in einem Interview.