GASTBEITRAG

Back to work - kein triviales Unterfangen

Börsen-Zeitung, 20.5.2020 Die Zahl der weltweit geleisteten Arbeitsstunden wird sich im zweiten Quartal 2020 voraussichtlich um 6,7 % verringern. Das entspricht rund 195 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. In den USA sind inzwischen 33 Millionen...

Back to work - kein triviales Unterfangen

Die Zahl der weltweit geleisteten Arbeitsstunden wird sich im zweiten Quartal 2020 voraussichtlich um 6,7 % verringern. Das entspricht rund 195 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. In den USA sind inzwischen 33 Millionen Menschen ohne Job. In Deutschland haben Unternehmen für mehr als 10 Millionen Angestellte Kurzarbeit angemeldet. Nach dem geordneten Shutdown, der Sicherung von Liquidität, der Arbeit im Homeoffice und dem Aufbau eines Coronakrisenmanagements beschäftigt derzeit die nächste Herkulesaufgabe die Führungskräfte: ein wohldosiertes und sicheres Hochfahren des Arbeitslebens in Büros, Verkaufsstellen, Produktionsstätten, Lagern und ganzer Vertriebsapparate. Der Weg zurück zur Arbeit ist wahrlich kein leichtes Unterfangen. Viele Fragen für ManagerDie Öffnung findet unter großen Unsicherheiten statt. Belastbare Vorhersagen sind schwer zu treffen. Das Management muss Antworten finden auf viele Fragen: Kann unser Unternehmen weiteren Schocks standhalten? Ist die Organisation so agil, dass wir uns rasch auf neue Bedingungen einstellen können? Wie gut können wir die Entwicklung unserer Märkte antizipieren? Je besser Unternehmen die vor ihnen liegenden Aufgaben bewältigen, desto erfolgreicher werden sie in der Phase danach sein, in der wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Auch wenn in Deutschland Covid-19 vorläufig eingedämmt ist, wird das Geschäftsleben noch lange nicht so sein wie vorher.Zumindest bis es wirksame Medikamente oder Impfstoffe gibt, verändert das Coronavirus die Arbeitsweise in den Unternehmen. Sicherheit wird mehr denn je Priorität haben. Die Belegschaft arbeitet fortan in dem Bewusstsein ständiger latenter Infektionsgefahr. Die Welt der Arbeit wird eine Welt auf Abstand sein. Im Büro wird der Großraum in Einzelplätze parzelliert. Im Aufzug fahren nur wenige Personen zusammen. Schichten in den Produktionsstätten werden so angepasst, dass das Ansteckungsrisiko gering ist. Darüber hinaus wird die Pandemie den Trend hin zum Homeoffice dauerhaft verstärken. Technik und Kommunikation verändern sich dadurch ebenso wie die Unternehmenssteuerung selbst. Zusätzliche Investitionen in die Ausstattung der Heimarbeitsplätze sind erforderlich, während an anderen Stellen wie beim Bürobedarf gespart werden kann. Entscheidend ist jedoch, dass Unternehmen diese Aufgaben frühzeitig angehen. Schaffen sie es nicht, die richtigen Maßnahmen zu treffen, gefährden sie die Gesundheit ihrer Mitarbeiter und auch ihren geschäftlichen Erfolg. Neues KaufverhaltenAuch Prozesse und Kundennachfrage gehören jetzt auf den Prüfstand. Die weltweite Automobilbranche beispielsweise wird in diesem Jahr laut Bain-Prognosen im wahrscheinlichsten Szenario fast 30 % weniger Fahrzeuge verkaufen. Produktion, Marketing und Vertrieb müssen sich dem neuen Kaufverhalten anpassen. Das gilt auch für die meisten Konsumgüterunternehmen. Nur wer verstanden hat, wie sich die Kundenbedürfnisse in welchen Regionen verändert haben, kann zielsicher produzieren und neue Dienstleistungen anbieten.Um in Zukunft Planungssicherheit zu gewährleisten, überprüfen und justieren Unternehmen rund um den Globus gerade ihre Lieferketten. In manchen Bereichen wird es zu einer regelrechten Deglobalisierung kommen. Die Rekonstruktion der Lieferketten wird regionaleren Gesichtspunkten folgen. So dürfte etwa ein international aufgestellter Maschinenbauer hierzulande erst einmal mehr Wert auf eine sichere Versorgung mit Komponenten legen als auf die preisgünstigste. Großhändler werden im Videochat Geschäfte abschließen, für die sie früher weit gefahren wären. Und dass in Zukunft insgesamt weniger internationale Geschäftsreisen stattfinden, wird ebenfalls zur neuen Realität gehören – mit tiefen Einschnitten für die Luftfahrtindustrie.Für die anstehende Phase höchster Komplexität und Volatilität müssen sich Unternehmen in weiten Bereichen neu aufstellen. Der Fahrplan zur Wiederaufnahme des Betriebs bedeutet nicht nur, den Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Schutz von Menschenleben zu schaffen. Auch ist statt straffer Top-down-Führung ein dezentraleres Agieren angesagt. Und anstelle starrer Periodenplanung ist eine kontinuierliche Marktbeobachtung gefragt. Dabei gilt es auf Nachfrageschwankungen ebenso sorgfältig zu achten wie auf alle sich bietenden Chancen, den Umsatz zu steigern. Ein neuer Führungsstil muss Freiräume gewähren, im Notfall aber sicherstellen, Maßnahmen auch schnell wieder zurücknehmen zu können. VertrauenssacheIn den nächsten Wochen muss es dem Management gelingen, dass Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und Investoren Vertrauen in das Wiederhochfahren des Betriebs haben. Hilfreich dürfte dabei eine Erfahrung sein, die viele Menschen gerade in den vergangenen Wochen gemacht haben. Mehr denn je haben sich Management und Belegschaft als Partner begriffen. Wir-Gefühl, Konsens, aber auch die funktionierenden staatlichen Auffangmechanismen in Deutschland sind eine gute Basis für den Neustart der Wirtschaft.Walter Sinn, Deutschlandchef von Bain & Company