Brexit sorgt für Verwerfungen am Kapitalmarkt
Nun ist es doch so weit. Großbritannien gehört von Januar an nicht mehr zur EU. Ein politischer und wirtschaftlicher Rückschritt, für Großbritannien selbst, aber auch für die Staaten der EU, die ihre Mitgliedschaft in der EU neu rechtfertigen müssen. Während der Übergangsfrist in diesem Jahr wurde Großbritannien noch so behandelt, als wäre es Mitglied der EU. Die europäische Rechtsordnung ignorierte die Tatsache des Austritts. Das ist nun nicht länger möglich. Großbritannien fällt weitgehend auf den Status eines beliebigen Drittlandes zurück, vergleichbar mit Indien. Das hat Auswirkungen auf die Kapitalmärkte und die Transaktionspraxis. Mit Indien sind die Verbindungen der europäischen Kapitalmärkte noch überschaubar. Die Verbindungen Großbritanniens mit den europäischen Kapitalmärkten sind dagegen eng und vielfältig. Eine große Zahl bedeutender Investoren hat ihren Sitz in London. Eine ganze Reihe von Unternehmen aus der EU sind an der London Stock Exchange börsennotiert, und umgekehrt suchen auch Unternehmen aus Großbritannien Zugang zum Kapitalmarkt in Europa, zum Beispiel an der Frankfurter Börse. Viele Auswirkungen der bevorstehenden Trennung werden sich erst noch zeigen. An einigen Stellen zeichnet sich Handlungsbedarf aber bereits ab. Thema StreubesitzEin Beispiel ist das Thema Börsengang von Unternehmen. Der Kapitalmarkt zeigt sich trotz des Pandemiejahres äußert robust, und erfolgreiche Börsengänge sind weiter an der Tagesordnung. Unternehmen aus den Bereichen Technologie und Pharmazie profitieren sogar von der Pandemie. Für Unternehmen, die neu an die Börse gehen, verlangen europäische Börsen ein Minimum an Aktien, die in Streubesitz gehalten werden. An der Frankfurter Börse sind das derzeit 25 %. Dabei setzt sich dieser sogenannte Free Float aus denjenigen Aktien zusammen, welche von breit gestreuten Aktionären gehalten werden, die nicht einem Großaktionär zuzurechnen sind. Nach derzeitiger Rechtslage werden zur Ermittlung dieses Streubesitzes aber nur solche Aktionäre berücksichtigt, die ihren Sitz innerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes haben. Dazu zählt Großbritannien ab Januar nicht mehr. In der Konsequenz wird es für Unternehmen aus der EU schwieriger, die Anforderungen für einen Börsengang zu erfüllen, da der Finanzplatz London in der Vergangenheit deutlich überproportional zum notwendigen Streubesitz beigetragen hat. In Fachkreisen geht man davon aus, dass bis zu 30 % des Streubesitzes für ein IPO aus dem Vereinigten Königreich beigesteuert wurden, was vor allem an der hohen Konzentration von Fonds- und Vermögensverwaltern in London liegen dürfte.Ein weiteres Beispiel ist das Thema Investorenschutz in Übernahmesituationen. In Deutschland sorgt das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) für eine angemessene Beteiligung der Aktionäre bei Übernahmen. Bei einer Konzentration von mindestens 30 % der Aktien in der Hand einer Aktionärsgruppe ist es zwingend erforderlich, ein Übernahmeangebot an alle Aktionäre zu unterbreiten. Die nationalen Übernahmeregime werden dabei auf europäischer Ebene durch die Übernahmerichtlinie der EU koordiniert. Sie gibt unter anderem vor, wie die Übernahmeregelungen der verschiedenen Staaten auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden. Hat eine börsennotierte Gesellschaft ihren Sitz in einem Mitgliedstaat, ihre Aktien werden aber in einem anderen Mitgliedstaat notiert, so finden innerhalb der EU beide Rechtsordnungen (die des Sitzstaates und die des Staates der Börsennotierung) für bestimmte Aspekte nebeneinander Anwendung.Mit Ablauf der Übergangsfrist wird dieses ausgeklügelte Regime für Gesellschaften mit Sitz in Großbritannien und einer Börsennotierung innerhalb der EU bzw. auch im umgekehrten Fall nicht mehr gelten. Das deutsche WpÜG zum Beispiel gilt nur für Aktien von Unternehmen aus einem Mitgliedstaat der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes mit einer Börsennotierung in Deutschland. Unternehmen aus Großbritannien bleiben also in Zukunft außen vor. Anleger, die Aktien von solchen Unternehmen aus Großbritannien mit Börsennotierung in Frankfurt gekauft haben, sind also darauf angewiesen, dass Großbritannien zukünftig das Schutzniveau für Aktionäre im Falle von Übernahmen nicht unter das bislang geltende europäisch koordinierte Niveau absenkt. Für Unternehmen aus der EU mit einer Börsennotierung in Großbritannien entfällt der bisherige Schutz bei Übernahmen sogar vollständig. Das Vereinigte Königreich beendet seine bisherige Zuständigkeit als derjenige Staat, in dem die Börsennotierung erfolgt ist, durch eine Änderung des UK Takeover Codes, der mit Ablauf des 31. Dezember in Kraft tritt. Umgekehrt greifen beispielsweise die Regelungen des deutschen WpÜG für ein deutsches Unternehmen mit Börsennotierung in Großbritannien nicht, da die Aktien des betroffenen Unternehmens nicht an einem Börsenplatz innerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes zugelassen sind.Weitere Verwerfungen sind im Falle eines Delistings, also des Rückzugs eines Unternehmens von der Börse, zu erwarten. Für Unternehmen mit Sitz in Großbritannien und Börsennotierung in einem anderen Land ist zukünftig – im Fall einer Übernahme – das UK Takeover Panel auf der Grundlage des UK Takeover Codes zuständig. Soweit bestimmte Voraussetzungen in Bezug auf den Verwaltungssitz der Gesellschaft vorliegen, wird zukünftig ein Übernahmeangebot nach dem Recht Großbritanniens verlangt. Kommt es dann im Nachgang der Übernahme eines solchen Unternehmens auch noch zu einem Delisting, was häufig angestrebt wird, so kommt es möglicherweise zum Konflikt mit der Rechtsordnung des Staates, in dem die Börsennotierung besteht.Zum Beispiel wird in Deutschland nach den Vorschriften des Börsengesetzes ein weiteres, also ein zweites Übernahmeangebot verlangt. Das deutsche Börsengesetz ordnet nämlich zum Schutz der Aktionäre bei einem Delisting ein Angebot zum Erwerb der Aktien an und verweist dabei auf die Regeln des WpÜG. Damit sollen Aktionäre die Möglichkeit bekommen, vor der Einstellung des Börsenhandels ihre Aktien noch mal zu einem gesetzlich festgelegten Mindestpreis zu verkaufen.Innerhalb des derzeit geltenden EU-Regimes lässt sich eine solche Doppelung von Übernahmeangeboten dadurch verhindern, dass ein Übernahmeangebot nach dem Recht des einen Staates, gleichzeitig auch als Erwerbsangebot für die Zwecke eines Delistings in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden kann. In grenzüberschreitenden Transaktionen mit Großbritannien wird das zukünftig so nicht mehr möglich sein. Kapitalaufnahme erschwertPandemiebedingt wird ein starker Anstieg der Zahl von Kapitalmarkttransaktionen erwartet. Zum einen wird es zu Übernahmen von Unternehmen kommen, und zum anderen werden sich Unternehmen auf der Suche nach Eigenkapital an die Börse wenden. Die Aufnahme von Eigenkapital hat den Vorteil, dass dadurch die Schuldenquote der betroffenen Unternehmen sinkt, was einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaft leistet. Dabei spielen europäische und internationale Börsen als Vermittler von Kapital eine wichtige Rolle. Der unbeschränkte Zugang zu möglichst effizienten Kapitalmärkten und deren reibungsloses Zusammenwirken ist für die preisgünstige Kapitalversorgung von Unternehmen aus allen Volkswirtschaften – aus Deutschland, anderen EU-Staaten und Großbritannien – essenziell. Nationale Abgrenzungen sind angesichts internationaler Kapitalströme ein offensichtlicher Anachronismus und erschweren die Kapitalbeschaffung für Unternehmen. Dirk Besse, Managing Partner der Kanzlei Morrison & Foerster