RECHT UND KAPITALMARKT

Brexit-Urteil kommt London entgegen

Britischer Supreme Court sieht keine Verpflichtung, Zustimmung von Schottland, Irland und Wales für EU-Austritt einzuholen

Brexit-Urteil kommt London entgegen

Von Chris Bryant und Mathias Hanten *)Bereits das Brexit-Urteil des English High Court vom 3. November 2016 erregte Aufsehen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass es der britischen Regierung von Verfassungs wegen verboten sei, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) ohne Zustimmung des Parlaments in Gang zu setzen. Dieses Urteil hat der Supreme Court nun am 24. Januar bestätigt. Der mittlerweile “berüchtigte” Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat einen Austritt aus der Union nur im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann. Die britische Regierung hatte ihre verfassungsrechtliche Kompetenz, dem Europäischen Rat die Austrittsabsicht ohne vorgängiges Gesetz mitzuteilen, mit dem aus mittelalterlicher Zeit stammenden königlichen Vorrecht (“Royal Prerogative Powers”) begründet, das nach einem weit verbreiteten Verständnis alle Angelegenheiten internationaler Beziehungen umfasst. Ehrgeizige FristVor dem High Court hatten die Kläger Gina Miller und Deir Dos Santos geltend gemacht, dass die – ungeschriebene – britische Verfassung vor Mitteilung nach Artikel 50 EUV ein entsprechendes, der Regierung dies gestattendes Parlamentsgesetz verlange. Nachdem die Kläger zunächst gewonnen hatten, wurde darüber spekuliert, ob die britische Regierung ihre Niederlage einräumen und, kommentarlos und um eine schnelle Klärung herbeizuführen, ein entsprechendes Gesetz initiieren würde. Denn sie hatte sich für die Mitteilung des Austritts eine ehrgeizige Frist – Ende März dieses Jahres – gesetzt. Die Regierung entschied jedoch anders und legte Rechtsmittel ein.Der normale Instanzenzug hätte zunächst zum Court of Appeal geführt. Allerdings wurde in diesem Fall aufgrund der besonderen verfassungsrechtlichen Bedeutung und der Eilbedürftigkeit Sprungrevision zum höchsten britischen Gericht, dem Supreme Court, eingelegt.Das Verfahren wurde ganz ungewöhnlich schnell, mit einer dreitägigen mündlichen Verhandlung im Dezember, durchgeführt. Das Urteil erging am 24. Januar und wurde am gleichen Tage veröffentlicht. Das Tempo der Entscheidung war dem Engagement aller Parteien, unter Einschluss der elf Richter, geschuldet. Im normalen Verfahren wäre mit mindestens einem Jahr bis zu einer Urteilsverkündung zu rechnen gewesen. Zwei BesonderheitenDas Gericht gab der Klage mit der Mehrheit seiner Richter (acht zu drei) statt. Zwei Besonderheiten des Urteils verdienen Beachtung: die Stellungnahme zur Rolle der Regionalregierungen in Wales, Schottland und Nordirland bei der Abgabe der Mitteilung nach Artikel 50 EUV sowie die in erster Instanz energisch aufgeworfene Frage nach der Widerrufbarkeit der Mitteilung gemäß Artikel 50 EUV.In der mündlichen Verhandlung wurde unter anderem erörtert, ob die britische Regierung vor Mitteilung nach Artikel 50 EUV auch die Zustimmung der irischen, schottischen und walisischen Regionalregierungen benötigt. Diese Frage ist deshalb von großer politischer Bedeutung, weil sich die Referendumswählerinnen und -wähler in Schottland und Nordirland mit großer Mehrheit gegen den Brexit, also für einen Verbleib in der Union ausgesprochen hatten und die Regionalregierungen sich vehement dagegen zur Wehr setzten, von einer englisch dominierten Regierung aus der Union gedrängt zu werden.In dieser einen Frage waren die Richter jedoch gleicher Meinung: Die Rechte der Regionalregierungen seien ein politisches Übereinkommen, das auf einer rechtlich nicht bindenden Vereinbarung beruhe. Obwohl politisch möglicherweise geboten, sei die britische Regierung nicht verpflichtet, vor Mitteilung der Austrittsabsicht eine Zustimmung der Regionalregierungen einzuholen.Der zweite Punkt betrifft die anhaltende Debatte über die Widerrufbarkeit der Mitteilung nach Artikel 50 EUV. Während der Verhandlungen vor dem High Court wurde diese Frage intensiv diskutiert und auch, ob und wie sich der Supreme Court dieser Frage annehmen würde. In einer für das Verfahrenstempo vorteilhaften Weise stimmten Kläger und Beklagte allerdings überein, dass die Erklärung nach Artikel 50 EUV nicht widerruflich sei, so dass der Supreme Court diese Frage nicht zu entscheiden hatte.Für die Kläger war diese Meinung zur Widerrufbarkeit wesentlich, da die Mitteilung nach Artikel 50 EUV andernfalls keine unmittelbare Rechtsverletzung begründet und es den Klägern deshalb an der Klagebefugnis gefehlt hätte. Für die britische Regierung war die Widerrufbarkeit weniger eine rechtliche als eine taktische und politische Angelegenheit, da die Rechtsfrage, wäre sie erheblich, nach Artikel 267 AEUV dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen gewesen wäre. Das wiederum war aus Sicht der britischen Regierung – angesichts der Zeitplanung für die Austrittsmitteilung und der Verfahrensdauer in Luxemburg – weder politisch noch zeitlich vertretbar. Die Pragmatik und das gemeinsame Parteivorbringen dürften den Supreme Court, der die Frage auch eigenständig dem EuGH hätte vorlegen können, veranlasst haben, die rechtliche Diskussion eng zu begrenzen.Die britische Regierung wird vom Urteil enttäuscht, aber nicht überrascht, vielleicht auch etwas erleichtert gewesen sein. Erstens besteht für sie keine Verpflichtung, die Zustimmung der Regionalregierungen einzuholen; zweitens ist die – zentrale – Frage der Widerrufbarkeit beiseitegeschoben worden. Kurzfristig ist das ein recht günstiges Ergebnis für die Regierung. Sie reagierte dementsprechend sehr schnell und legte dem Parlament einen bemerkenswert kurzen Gesetzesentwurf vor. Auch wenn noch eine intensive parlamentarische Debatte geführt wird, ist absehbar, dass die Regierung das Gesetz zeitgerecht durch das Parlament bringen und so ihren ehrgeizigen Zeitplan einhalten kann. Dokumentiert wird der Zeitplan der Regierung durch deren aktuelles Whitepaper. Belastete BeziehungenAuf längere Sicht dürften sich jedoch noch Schwierigkeiten aus dem Rechtsstreit entwickeln. Zunächst ergeben sich politische Auswirkungen aus der Feststellung des Supreme Court, dass die Gewährung von Mitwirkungsmöglichkeiten an Nordirland, Schottland und Wales rechtlich nicht verbindlich ist. Speziell die Beziehungen der britischen Regierung zu Schottland, die seit langem schwierig sind, werden weiter belastet. Das Urteil lässt die schottischen Überlegungen zum Austritt aus dem Vereinigten Königreich wieder aufleben.Auch die Frage der Widerrufbarkeit der Erklärung nach Artikel 50 EUV bleibt offen. Eine vom bisherigen Verfahren unabhängige Klage ist in der Republik Irland anhängig. Diese Klage ist so konzipiert, dass die Frage der Widerrufbarkeit dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen ist. Obwohl diese Angelegenheit außerhalb des Vereinigten Königreichs erhoben wurde und deshalb die Auslösung des Artikels 50 EUV nicht berührt, wird sie dennoch Bedeutung gewinnen. Viele britische Bürgerinnen und Bürger finden es beängstigend, dass die Regierung Ihrer Majestät eine Erklärung nach Artikel 50 EUV abgeben wird, ohne zu wissen, ob sie den “Scheidebrief” zurücknehmen kann. Quelle der ErkenntnisDie Antwort auf diese Frage wird den Ablauf der Verhandlungen zwischen der Union und Großbritannien ganz erheblich beeinflussen. Bei dieser Gelegenheit könnte das irische Gericht wohl auch die sehr interessante und rechtlich umstrittene Frage behandeln, ob die Mitteilung nach Artikel 50 EUV Auswirkungen auf den weiteren Verbleib Großbritanniens im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hat.Für britische Verfassungsrechtler ist das Urteil eine immer noch weiter sprudelnde Quelle juristischer Erkenntnis. Darüber hinaus ist die Geschwindigkeit des Verfahrens eine großartige Bestätigung des britischen Rechtssystems. Ob das Bundesverfassungsgericht auch so schnell entschieden hätte?—-*) Chris Bryant ist Partner von Berwin Leighton Paisner in London, Dr. Mathias Hanten ist Partner von Deloitte Legal in Frankfurt am Main.