RECHT UND KAPITALMARKT

Bundesfinanzhof stellt Zinshöhe auf Steuernachzahlungen in Frage

Verfassungsmäßigkeit angezweifelt - "Realitätsferne Bemessung"

Bundesfinanzhof stellt Zinshöhe auf Steuernachzahlungen in Frage

Von Helge Jacobs *)Setzt das Finanzamt Einkommen-, Körperschaft-, Umsatz- oder Gewerbesteuer etwa nach einer Betriebsprüfung nachträglich höher fest, müssen Steuerpflichtige nicht nur die Steuern nachentrichten, sondern zusätzlich auch Zinsen zahlen (§ 233a AO), was dem Fiskus in den letzten Jahren Mehreinnahmen von über 2 Mrd. Euro beschert hat. Die Höhe der Mehreinnahmen ist vor allem auf den bei der Berechnung angewendeten Zinssatz von 0,5 % pro Monat (so § 238 AO, damit 6 % jährlich) zurückzuführen. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat nunmehr einem Steuerpflichtigen einstweiligen Rechtsschutz gewährt, der nach Abschluss einer Außenprüfung mit einer Zinsfestsetzung von über 240 000 Euro für den Zeitraum April 2015 bis November 2017 konfrontiert war (BFH v. 25.4.2018, IX B 21/18). Der Steuerpflichtige wehrte sich gegen die Zinsfestsetzung und begehrte einstweiligen Rechtsschutz mit der Begründung, dass der bei der Zinsberechnung zugrundegelegte Zinssatz verfassungswidrig sei. Der BFH gab dem Antrag vollumfänglich statt. Der BFH hat schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken, ob die Zinshöhe von 0,5 % pro Monat mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) vereinbar ist und gegen das Übermaßverbot gemäß Art. 20 Abs. 3 GG verstößt. Der Gleichheitssatz gebietet wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Steuergesetze müssten Sachverhalte typisieren, um praktikabel zu bleiben. Der Gesetzgeber müsse sich bei der Typisierung aber an der wirtschaftlichen Realität und am typischen Fall als Leitbild orientieren. Gerade hieran hat der BFH erhebliche Zweifel. Die seit Jahren andauernde Niedrigzinsphase sei keine vorübergehende Erscheinung: Der Marktzins habe sich auf niedrigem Niveau strukturell verfestigt, weshalb der gesetzlich bestimmte, völlig unflexible starre Zinssatz von 0,5 % monatlich sich fernab der wirtschaftlichen Realität bewege. Kreditzinsen von 9 % für Girokontoüberziehungen und von 14 % für Kreditkartenkredite seien auf Sonderfaktoren zurückzuführen und nicht als realitätsgerechtes Leitbild geeignet. Die gesetzliche Zinshöhe lasse sich nicht sachlich rechtfertigen: Der Gesetzgeber hatte 1961 die Typisierung mit dem Interesse an Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung begründet. Diese Begründung sei aber angesichts des veränderten technischen Umfelds nicht mehr tragfähig. Unter Einsatz moderner Informationstechnologie seien Zinsen auch mit realitätsgerechten Zinssätzen praktikabel und einfach zu berechnen. Für die Zinshöhe fehle es überhaupt an einer nachvollziehbaren Begründung, insbesondere lasse sie sich auch nicht mit dem Zweck der Verzinsungspflicht rechtfertigen. Dieser bestehe darin, einen Liquiditäts- und Zinsvorteil des Steuerpflichtigen abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige gegenüber dem Fiskus dadurch erlange, dass er über eine Geldsumme verfügen könne, die dem Fiskus zustehe. Der Steuerpflichtige habe aber regelmäßig nicht die Möglichkeit, eine vergleichbare Verzinsung bei alternativer Anlage des ausstehenden Steuerbetrags am Kapitalmarkt zu erzielen. Ebenso wenig könne der Fiskus den nicht gezahlten Steuerbetrag risikolos anderweitig anlegen. Zudem könne der Bund sich praktisch zum Nulltarif neu verschulden.Die realitätsferne Bemessung der Zinsen wirke zudem im Niedrigzinsumfeld wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung, sei sachlich nicht gerechtfertigt und verstoße damit auch gegen das Übermaßverbot. Der III. Senat des BFH hatte in einem erst vor wenigen Monaten veröffentlichten Urteil die Zinshöhe für Verzinsungszeiträume 2013 noch für verfassungskonform gehalten. Das Bundesverfassungsgericht (Aktenzeichen 1 BvR 2237/14) wird über die Frage zu entscheiden haben, ob der Zinssatz von 0,5 % pro Monat bereits für Verzinsungszeiträume nach dem 31.12.2009 verfassungswidrig ist. Für die Jahre 2003 bis 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht die Zinshöhe für verfassungskonform gehalten (BVerfG, 1 BvR 2539/07). Ob das BVerfG angesichts des “strukturell verfestigten Niedrigzinsniveaus” an dieser Rechtsprechung auch für die Kalenderjahre ab 2010 festhalten wird, bleibt abzuwarten, erscheint aber angesichts der überzeugenden Begründung des BFH weniger wahrscheinlich. Gesetzgeber aufgerufenSteuerpflichtige, gegen die Zinsbescheide ergangen sind, sollten prüfen, ob die Bescheide noch anfechtbar oder sonst änderungsfähig sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die für Steuerbescheide anwendbaren Regelungen der Abgabenordnung insbesondere zu den Änderungsvorschriften entsprechend anwendbar sind, die Festsetzungsfrist jedoch nur ein Jahr beträgt und ihr Beginn abweichend zu berechnen ist. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, eine verfassungskonforme Regelung zu schaffen. Er sollte nicht auf eine Aufforderung aus Karlsruhe warten.—-*) Dr. Helge Jacobs ist Rechtsanwalt und Steuerberater bei Linklaters.