Chemieindustrie sortiert um
Sie sind keine Partylöwen im M&A-Geschäft, setzen sich aber mit dem einen oder anderen mittelgroßen Deal in Szene. Die Chemieindustrie optimiert ihr Portfolio, trennt sich von margenschwachen Randbereichen oder untermauert Marktpositionen mit Erwerben. Der jüngst von Covestro in Angriff genommene Deal war überfällig, meint Uwe Nickel von der Beratungsgesellschaft Proventis Partners.Von Sabine Wadewitz, FrankfurtDie Chemieindustrie zählt nicht zu den Branchen, die das M&A-Geschehen aktuell in vorderster Reihe in Schwung bringen. Mit Pharmaunternehmen und Technologieriesen wollen sie nicht mitziehen, doch sie halten im eigenen Markt das Transaktionsangebot auf kleinerer Flamme am Köcheln. Viele Konzerne schauen sich in der Coronakrise noch intensiver ihr Portfolio an und wägen ab, wo sie künftig Investitionsschwerpunkte setzen wollen und was sie lieber in andere Hände geben.Zuletzt hat Covestro mit der Übernahme des Geschäfts mit Beschichtungsharzen von DSM für einen Coup gesorgt – es ist die erste größere Akquisition des einst von Bayer ausgegliederten Kunststoffkonzerns. DSM hat gut verhandelt und einen veritablen Preis erzielt. Covestro spricht vom perfekten Deal, den man jahrelang im Visier gehabt habe, und verspricht Synergien. Aus Beratersicht war der M&A-Schritt von Covestro überfällig. “Darauf hat man lange gewartet”, sagt Uwe Nickel, Partner der Beratungsgesellschaft Proventis Partners im Zürcher Büro.Trotz Coronakrise und globalen Handelsstreitigkeiten haben Chemieunternehmen Transaktionen durchgezogen, und das wird sich fortsetzen, meint Nickel. Es geht um Portfolioumbau, aber auch um die Festigung von Marktpositionen. So schwinge sich zum Beispiel die japanische DIC mit der Übernahme des Pigmentgeschäfts der BASF zum Weltmarktführer auf.Der bislang größte Deal wird derzeit in der Petrochemie durchgezogen, wo die britische Ineos für 5 Mrd. Dollar Aktivitäten des Mineralölkonzerns BP übernimmt – es geht um das globale Acetyl- und Aromatengeschäft. Jüngste Transaktion in dem Segment ist das Polyethylen-Joint-Venture von LyondellBasell und Sasol, wobei der niederländische Konzern 2 Mrd. Dollar für die Beteiligung an einer Großanlage in Louisiana an den südafrikanischen Partner zahlt, der über Assetverkäufe eine aus dem Ruder gelaufene Verschuldung abzubauen versucht.In der Feinchemie hat Chr. Hansen ihre auf Farbstoffe für die Nahrungsmittelindustrie ausgerichtete Division Natural Colors mit 220 Mill. Euro Umsatz Ende September für 800 Mill. Euro an den Finanzinvestor EQT verkauft. Der dänische Biotechnologie-Konzern, der Lebensmittelkulturen und Enzyme herstellt, verstärkt sich dagegen für einen Kaufpreis von 310 Mill. Euro mit dem deutschen Unternehmen Jennewein, das Inhaltsstoffe für Säuglingsnahrung herstellt, die in der natürlichen Muttermilch vorkommen.Die Transaktion ist Ergebnis eines Dual-Track-Verfahrens. Jennewein, die 50 Mill. Euro umsetzt und ein negatives Betriebsergebnis ausweist, hatte Anfang 2020 ihren Börsengang angekündigt, wobei ein Emissionsvolumen von 100 Mill. Euro angepeilt wurde, um Mittel für eine Produktionsanlage einzusammeln. Als mehrere Investoren in Rheinbreitbach anklopften, leiteten die Gesellschafter des rheinland-pfälzischen Unternehmens parallel ein Bieterverfahren ein, aus dem Chr. Hansen als Sieger hervorging. Die Dänen haben zugesagt, 200 Mill. Euro in ein neues Werk zur Herstellung von Milchzucker zu stecken.Dem Jennewein-Kauf ging eine Übernahme im gleichen Geschäft voraus. Den globalen Marktführer für humane Milch-Oligosaccharide hatte Anfang des Jahres DSM übernommen, als der niederländische Feinchemiekonzern für 765 Mill. Euro vor der Haustür von Chr. Hansen die dänische Glycom erwarb – ein hoch spezialisiertes Unternehmen mit 74 Mill. Euro Umsatz. DSM ist wie Chr. Hansen immer wieder mit Akquisitionen im Markt. Zuletzt verleibten sich die Niederländer für einen Unternehmenswert von 980 Mill. Euro die unter anderem auf Futtermitteladditive fokussierte österreichische Firmengruppe Erber ein. Diese Übernahme hat DSM Anfang Oktober abgeschlossen.Die Deals in der Chemie zeichnen sich durch unterschiedliche Komplexitätsgrade aus. “Petrochemietransaktionen sind bei allen Herausforderungen vergleichsweise einfach, sagt Nickel. Die Zahl der Produkte und Anlagen ist in der Regel überschaubar, genauso wie die betroffenen Märkte. Die Produkte dieser Anbieter gehen meist nur in wenige Anwendungen, von wo aus weitere Veredelungen stattfinden. “In der Basischemie gestalteten sich Übernahmen schon etwas schwieriger, richtig komplex wird es dann in der Spezial- und Agrochemie”, sagt Nickel. Die Produkte dieser Anbieter mit einem breiten Sortiment gehen in unterschiedliche Märkte. Es falle oft schwer, das aufzufächern und in Finanzkennzahlen auf Produkt- oder Segmentlevel abzubilden. So könne ein Chemieprodukt gleichzeitig in der derzeit kämpfenden Automobilindustrie sowie in einer florierenden Branche gefragt sein, was ein Urteil über die globalen Ertragsaussichten des Produkts erschwere.Zwei größere Deals, die sich abzeichnen, ist der Verkauf des Spezialchemiegeschäfts der Schweizer Lonza und die Veräußerung des Pigmentgeschäfts der benachbarten Clariant. Der von Lonza geplante Deal ist aus Sicht von Nickel hoch komplex, weil die zum Verkauf stehende Spezialchemie aus zwei in sich weiter aufgefächerten Segmenten besteht. Clariant stellt mit dem Pigmentgeschäft zwar nur einen Bereich zum Verkauf, allerdings gehen die Produkte “in alle Anwendungen, die man sich vorstellen kann”. Die wahren Wachstumstreiber sind somit für den Käufer schwer herauszufiltern, erklärt der Berater. Pigmentkunden von Clariant sind Automobil- und Bauindustrie genauso wie Textilhersteller.Nickel geht davon aus, dass die Lonza-Aktivitäten auf großes Interesse stoßen. “Es wird einen riesigen Run geben, das steht fest. Solche Assets kommen nicht oft auf dem Markt. Er rechnet damit, dass die beiden Bereiche nicht separat, sondern die Aktivitäten als Ganzes veräußert werden – es geht in Summe um einen Umsatz von zuletzt 820 Mill. sfr. Schlange stehen werden strategische Käufer genauso wie Finanzinvestoren. Lonza habe Aktivitäten in Schaufenster gestellt, “die Zukunft haben”. Im Bereich Feinchemie geht es unter anderem um Vorprodukte für die Pharmaindustrie. “Kleine BASF”Lonza will sich mit der Trennung von der Chemiesparte, ein Traditionsgeschäft für den Konzern, künftig voll und ganz auf ihre Rolle als Produktionspartner der Pharma- und Biotechindustrie konzentrieren und die Komplexität im Unternehmen reduzieren: “Wir sind gleichzeitig eine kleine BASF und eine kleine Roche. Alles in der gleichen Firma”, umschreibt Interims-CEO Albert Baehny die bisherige Lage. Den Zeitpunkt für einen Verkauf hält Lonza für optimal, weil die Chemiesparte zuletzt trotz eines Umsatzrückgangs die operative Marge (Kern-Ebitda) auf 19,7 % ausbaute.Clariant hatte laut Reuters im Januar die Deutsche Bank damit beauftragt, einen Käufer für das Pigmentgeschäft zu finden. Im Raum stand eine Bewertung von 800 bis 900 Mill. sfr. Beim ersten Verkaufsversuch rund ein Jahr zuvor war dem Unternehmen der Wettbewerber BASF ins Gehege gekommen, die vergleichbare Aktivitäten zur Disposition stellte und dann mit der japanischen DIC handelseinig wurde. Clariant will die Trennung vom Pigmentgeschäft bis Jahresende durchziehen. Es gilt als vorerst letzter Schritt im Konzernumbau nach dem Verkauf von Healthcare Packaging und Masterbatches-Geschäft. Zurückhaltender MittelstandStrategische Herausforderungen macht Nickel im Chemie-Mittelstand aus. Dieser Kreis schaue sich nicht so aktiv wie die größeren Wettbewerber nach M&A-Gelegenheiten um. “Sie wachsen gerne organisch.” Es gibt einzelne Ausnahmen, doch in der breiten Masse herrsche noch Zurückhaltung bei Transaktionen. Oft wird erst agiert, wenn die Unternehmensnachfolge geregelt werden muss. Das hängt aber auch stark mit mangelnden Ressourcen und der fehlenden Erfahrung mit komplexen M&A-Prozessen zusammen. “In der Regel gibt es im Mittelstand anders als in den großen Konzernen kein M&A-Team, das permanent Optionen sondiert und regelmäßig Transaktionen durchführt.”