Chemiekonzerne durchforsten ihr Portfolio
Die Chemieindustrie hat mit der Nachfrageschwäche wichtiger Abnehmerbranchen wie der Automobilindustrie zu kämpfen und leidet unter dem Rohstoffpreisverfall. Das bremst das M&A-Geschehen in der Branche. Gleichwohl setzen sich Portfoliobereinigungen fort – vor allem bei wetterfesten Aktivitäten. Von Sabine Wadewitz, FrankfurtVon großen Deals ist die Chemieindustrie weit entfernt. Allerdings werden unabhängig von der Coronakrise mögliche attraktive Übernahmeziele diskutiert. So wird der Schweizer Spezialchemiekonzern Clariant immer wieder als Kandidat gehandelt, zumal sich schwer abschätzen lässt, welche Pläne der saudi-arabische Mehrheitsaktionär Aramco mit seinem Engagement verfolgt, nachdem im Nahen Osten mit dem Erwerb von Sabic ein neuer Chemiegigant entstanden ist.Auch im laufenden Jahr sind die bislang größeren Transaktionen in der Petrochemie auf die Schiene gesetzt worden. Der österreichische Öl- und Gaskonzern OMV diversifiziert und stockt für 4,7 Mrd. Dollar seinen Anteil am Kunststoffunternehmen Borealis auf 75 % auf. In Summe 5 Mrd. Dollar legt der britische Chemieanbieter Ineos auf den Tisch, um sich weitere Teile der Petrochemie des Mineralölkonzerns BP einzuverleiben – diesmal das globale Acetyl- und Aromatengeschäft.Die Transaktion kommt nicht überraschend, ist doch Ineos schon aus einem Management Buy-out von früheren BP-Petrochemie-Assets in Antwerpen entstanden. 2005 hatte Ineos dann für 9 Mrd. Dollar das ebenfalls aus dem BP-Konzern hervorgegangene Petrochemieunternehmen Innovene erworben. Seitdem produzierte Ineos bereits auf BP-Standorten in benachbarten Anlagen. Doch auf einen Rutsch ließ sich der Erwerb damals nicht stemmen. Auch der jüngste Deal geht in mehreren Stufen über die Bühne. BP erwägt auch den Verkauf der deutschen DHC Solvent Chemie, die Lösemittel aus Mineralöl produziert.Dass es in diesem Jahr zwei größere Deals auf dem Gebiet der Petrochemie gibt, sieht Martin Bastian, Chemieexperte der Investmentbank Houlihan Lokey, nicht als Trend: “Es handelt sich um zwei Unternehmen in unterschiedlichen Situationen, die zuletzt stärker gelitten haben.” Die Endmärkte für viele petrochemische Produkte sind eingebrochen – sichtbar am Beispiel der Automobilindustrie als wichtige Kundengruppe für die Hersteller von Vorprodukten für Kunststoffe. Ölpreisverfall bremstIn ähnlicher Lage sieht er die südafrikanische Sasol, die vor Jahren ein riesiges Investment zur Errichtung eines Chemiekomplexes zur Herstellung von Ethylen mit einem Ethan-Cracker in den USA auf den Weg gebracht hat und nun aufgrund der Coronakrise, der aus dem Ruder gelaufenen Baukosten, des niedrigen Ölpreises und der schwächeren Nachfrage die erhöhte Schuldenlast tragen muss. Die Fertigstellung hat sich zudem deutlich länger hingezogen als geplant.Aufgrund der hohen Verschuldung infolge der Mehrkosten versucht Sasol, ein Erdöl- und Chemiekonzern aus Johannesburg, nun einen Minderheitsanteil zu verkaufen, weil Liquidität bzw. ein niedriger Verschuldungsgrad benötigt wird, erklärt Bastian. “Die Transaktion ist aus dieser Sondersituation geboren, die durch Corona noch deutlich verschärft wurde.” Als der Konzern die Investition plante, sei der Ölpreis um die 60 Dollar gewesen, heute rechne sich das Projekt natürlich anders. Im Juli hat Sasol angekündigt, die weltgrößte Sauerstoffproduktionsstätte in Südafrika für eine halbe Milliarde Dollar an Air Liquide zu veräußern.Vom Ölpreisverfall sind große Teile der Chemie durch hohen Preis- und Margendruck betroffen. Allenfalls Spezialitätenunternehmen können Preise gegenüber ihren Kunden halten. “Auch aus Liquiditätsgründen stellen Chemiekonzerne derzeit große Investitionsprojekte zunächst zurück, kleinere Anbieter stoppen vorübergehend teilweise Vorhaben, auch wenn Produktionsanlagen schon zu 70 % fertig errichtet sind.” Zu Einschnitten oder Verzögerungen könne dieser Kreis auch in notwendigen Digitalisierungsprojekten gezwungen sein, meint Bastian. Mit Blick auf künftige M&A-Transaktionen zeichnen sich aus seiner Sicht Veräußerungen von Konzerneinheiten ab, die gut durch die Krise kommen. “Aktivitäten, die halbwegs stabil sind oder von der Krise profitieren, kommen auf den Markt.” Bastian verweist etwa auf das dänische Unternehmen Chr. Hansen, das Anfang Juli seine Division Natural Colors mit Farbstoffen für die Nahrungsmittelindustrie ins Schaufenster gestellt hat. DSM hatte für ähnliche Aktivitäten immerhin 16- bis 17-mal das Ebitda bezahlt. Die Schweizer Lonza will ihr Spezialchemiegeschäft zum Verkauf anbieten. Dieses Geschäft war 2011 mit dem Erwerb des US-amerikanischen Biozidherstellers Arch Chemicals ins Portfolio gekommen – damals für 1,6 Mrd. sfr die größte Übernahme in der Firmengeschichte. Air Liquide hatte schon im November 2019 mit dem Finanzinvestor EQT den Verkauf der Tochterfirma Schülke & Mayr begonnen, eines Herstellers von Desinfektions- und Imprägnierungsmitteln. Im April brachte man den Deal unter Dach und Fach – für kolportiert 900 Mill. Euro. Clariant hat das Pigmentgeschäft ins Schaufenster gestellt, wofür eine Bewertung von 800 bis 900 Mill. sfr vermutet wird. Unter InvestitionsdruckBewertungsmultiplikatoren sind bei Industriechemikalien und Spezialitäten nach oben gegangen. “In volatilen Zeiten ist es müßig, über Multiplikatoren zu reden”, sagt Bastian. Denn in den Gewinnerwartungen für die zum Verkauf stehenden Geschäfte häufen sich die Adjustierungen. “Damit wird es zur Frage der Perspektive. Es kommt vor, dass der Käufer mit Bekanntgabe einer Transaktion seinen Aktionären ein Ebitda- Multiple von 8 nennt, der Verkäufer beziffert es auf 10.”Kurz- und mittelfristig wird es nach seiner Einschätzung eine ernsthafte Diskussion geben, wie man die Auswirkungen von Corona im Zahlenwerk abbilden kann. Die Bewertungen werden auch nach oben getrieben, weil Private-Equity-Gesellschaften dringend nach Übernahmezielen suchen, um ihr Geld auszugeben. “Wo der Investitionsdruck am größten ist, wird auch einmal ein höherer Preis gezahlt.” Die Strategen mögen disziplinierter sein, wer aber selbst z. B. mit einem Ebitda-Multiple von über 16 oder 17 handelt und darunter beim Kauf zuschlägt, hat erst mal rechnerisch ein gutes Geschäft gemacht. “Das ist aber eine Momentaufnahme und birgt Abschreibungsrisiken in der Zukunft, falls sich der Markt dreht oder die Akquisition die Erwartungen nicht erfüllt”, warnt Bastian.