IM INTERVIEW: JENS WILHELM UND VANDA HEINEN, UNION INVESTMENT

"Coronakrise darf die Governance nicht schwächen"

Fondsgesellschaft sieht virtuelle Hauptversammlung in derzeitiger Form nur als Übergangslösung - Kein Quantensprung im Unternehmensranking 2019

"Coronakrise darf die Governance nicht schwächen"

Union Investment hat Unternehmen aus Dax und MDax einem Corporate-Governance-Ranking unterzogen, um sich ein Bild über die Anstrengungen für verantwortungsvolle Unternehmensführung zu machen. Die Analyse dient der Fondsgesellschaft als Grundlage für Gespräche mit Aufsichtsratsvorsitzenden und unterstützt das Engagement auf Hauptversammlungen. Vorstandsmitglied Jens Wilhelm und Analystin Vanda Heinen erläutern im Interview der Börsen-Zeitung das Ergebnis der Untersuchung und nehmen Stellung zu ihren Governance-Leitlinien. Frau Heinen, Herr Wilhelm, wie bereiten Sie sich auf Ihren Einsatz in den bevorstehenden virtuellen Hauptversammlungen vor?Wilhelm: Wichtig ist mir zu betonen, dass die virtuelle Hauptversammlung in der derzeitigen Form nur eine Übergangslösung sein kann. Die Hauptversammlung ist ein entscheidendes Instrument für eine funktionierende Aktionärsdemokratie und zentrales Element der Corporate Governance. So haben die Anteilseigner dort unter anderem ein Frage- und Auskunftsrecht gegenüber dem Vorstand und Aufsichtsrat. Das muss uneingeschränkt erhalten bleiben. Braucht es wirklich noch den Dialog in einer Präsenzveranstaltung? Legen Investoren nicht schon vorher fest, wie sie abstimmen werden?Heinen: Natürlich bilden wir uns zu den Tagesordnungspunkten schon vorher eine Meinung. Aber es geht auf der Hauptversammlung auch nicht allein um das Abstimmungsergebnis. Wir haben nur dort die Gelegenheit, unsere Meinung vor den gesamten Gremien darzulegen. Man kann nicht nur über die Abstimmung Druck ausüben, sondern auch durch die öffentliche Diskussion kritischer Themen, die zum Teil nicht explizit auf der Tagesordnung stehen. Auch das gibt Unternehmen ein Zeichen, das sie nicht ignorieren können. Das konnte man zum Beispiel in der Klimadebatte auf der Siemens-Hauptversammlung erkennen. Spricht man als Investor nicht schon vor dem Aktionärstreffen ausführlich über relevante Punkte mit dem Aufsichtsratschef?Wilhelm: Wir tun das, wir suchen den Dialog, doch nicht jeder Aktionär hat direkten Zugang zu Vorstand oder Aufsichtsrat und kann sich dort Gehör verschaffen. Diese Möglichkeit bietet für viele nur die Hauptversammlung. Selbstverständlich sollte man darüber nachdenken, die Präsenzveranstaltung mit neuen Technologien zu ergänzen und digitaler zu machen.Heinen: Man sollte den Aktionären ermöglichen, sich während der Versammlung interaktiv auf elektronischem Weg zu Wort zu melden und Fragen zu stellen. Das wird in der aktuellen Saison in den virtuellen Veranstaltungen allerdings nicht angeboten. Fragen müssen vorher eingereicht werden, der Vorstand hat freie Hand, welche er beantwortet und welche nicht. Damit werden elementare Aktionärsrechte beschnitten. Lässt sich feststellen, dass Unternehmen angesichts der eingeschränkten Aktionärsrechte in der virtuellen HV nun intensiver den Dialog mit Investoren suchen?Wilhelm: Es gibt einen intensiven Austausch rund um die virtuelle HV, die für beide Seiten Neuland bedeutet. Unternehmen sollten die gegebenen technischen Möglichkeiten umfassend nutzen, wobei es nicht nur um Mindeststandards gehen kann. Die Coronakrise darf nicht zu einer Schwächung der Corporate Governance führen, die ja Unternehmensinteresse und Aktionärsinteresse in Einklang bringen soll.Heinen: Wir begrüßen die Pläne der Deutschen Bank, Reden von Vorstands- und Aufsichtsratschef vorher zu veröffentlichen und Wortbeiträge von Aktionären auf der HV-Website bereitzustellen. Wir setzen darauf, dass auch andere Unternehmen später im Jahr aktionärsfreundlichere Lösungen finden und nicht nur das Minimalprogramm durchziehen, wie es bei Bayer der Fall ist. Schauen wir auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Pandemie. Gibt es bestimmte Dinge, die Sie in der Coronakrise als Investor von Unternehmen erwarten?Wilhelm: Wir schauen uns genau an, inwieweit der Dividendenvorschlag vertretbar ist. Genauso werden wir uns ein Bild über das Krisenmanagement der Unternehmen verschaffen. Daneben bleiben ESG-Themen und Nachhaltigkeit relevant, auch wenn sie aktuell etwas in den Hintergrund rücken. Doch für die langfristige Ausrichtung behalten sie ihre Bedeutung. Mit Blick auf Corona ist es für uns auch wichtig, wie Unternehmen die Gesundheit ihrer Mitarbeiter schützen und welche Konzepte sie verfolgen, um die Produktion wieder anlaufen zu lassen. Bleiben auch die üblichen Governance-Themen auf der Agenda?Heinen: Natürlich. Hier geht es vorrangig um die Besetzung von Gremien. Die Ämterhäufung ist nach wie vor ein akutes Thema. Gerade in der aktuellen Situation wird deutlich, dass Aufsichtsräte genügend Zeit für ihre Mandate mitbringen müssen. Wenn man als Vorstand oder CEO im eigenen Unternehmen schon sehr stark gefordert ist und zusätzlich noch mehrere Aufsichtsratsmandate wahrnimmt, dürfte es eng werden.Wilhelm: In der Pandemie zeigt sich auch, wie wichtig Altersgrenzen für Aufsichtsräte sind. Zahlreiche Gremienmitglieder zählen zur Risikogruppe, können also unter Umständen nicht mehr vor Ort präsent sein. Auch unabhängig von Corona plädieren wir weiter für eine Verjüngung der Aufsichtsräte. Was ist für eine Fondsgesellschaft in Pandemiezeiten die adäquate Dividendenpolitik? Sie sind ja auf Ausschüttungen angewiesen.Wilhelm: Wir beobachten im Anlegerinteresse genau, wie Entscheidungen getroffen werden. Dazu kommt regulatorischer Druck etwa bei Banken und Versicherern. Manches Unternehmen verschiebt die Hauptversammlung, um vielleicht später bei einer Aufhellung der Situation doch noch eine Dividende zahlen zu können. Hier ist noch keine einheitliche Linie zu erkennen. Dividenden sind für Investoren eine wichtige Performancequelle. Wer Dividende zahlen kann, sollte das auch tun. Deshalb müssen Unternehmen ihre finanzielle Situation transparent machen. Union Investment hat zum dritten Mal ein Governance-Ranking erstellt, erstmals auch für den MDax. Hat sich im Dax abermals ein Lernerfolg eingestellt?Wilhelm: Der Notendurchschnitt hat sich zwar leicht von 2,1 auf 2,0 erhöht, doch es sind noch nicht alle Unternehmen auf dem Stand, auf dem wir sie gerne sehen würden. Bemühungen sind zu erkennen, die Unternehmen informieren sich über unsere Kriterien und wie sie sich verbessern können. Werden allgemeine Fortschritte sichtbar?Heinen: Es sind kleine Tendenzen auszumachen, aber im Vergleich zum Vorjahr ist kein Quantensprung erkennbar. Mehr Unternehmen stellen ausführlicher dar, welche weiteren Mandate die Aufsichtsratsmitglieder wahrnehmen und ob es sich um Sitze in börsennotierten Gesellschaften handelt oder um Konzernmandate. Diese Transparenz hilft uns, den Zeitaufwand abzuschätzen. Daneben sind die Firmen bemüht, die Ämterhäufung von Vorstandsmitgliedern abzubauen. In sechs Unternehmen halten wir allerdings die Zahl der Mandate von Vorständen noch für zu hoch. Positiv ist noch zu vermerken, dass es im Vergleich zum Vorjahr mehr Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen gibt. Welche Defizite treten unternehmensübergreifend noch zutage?Heinen: Die mangelnde Unabhängigkeit des Prüfungsausschussvorsitzenden bleibt ein zentraler Kritikpunkt, auch wenn sich zuletzt einzelne Unternehmen bewegt haben. Große Probleme bereitet nach wie vor die Ämterhäufung. Nur bei drei Unternehmen im Dax sehen wir kein Risiko in der Mandatszahl der Aufsichtsratsmitglieder. Im Vergleich zum Vorjahr sind zudem bei zusätzlich zwei Unternehmen Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung mit weniger als 90 % der Stimmen entlastet worden. Bei 14 Unternehmen erreichte die letzte Abstimmung über die Vorstandsvergütung weniger als 85 %, das waren zwei Fälle mehr als 2018. Nachholbedarf sehen wir weiterhin in der Diversität. Die Aufsichtsräte sind nicht ausreichend international besetzt, wobei wir auf der Anteilseignerseite eine Quote von 20 % als Mindestgröße für erforderlich halten. Zudem ist bei einem Fünftel der Dax-Unternehmen keine Frau im Vorstand zu finden. Die Allianz hat sich im Ranking 2019 den 1. Platz von Munich Re zurückerobert. Was war ausschlaggebend?Heinen: Die Allianz hat die Ämterhäufung in Vorstand und Aufsichtsrat reduziert und die Transparenz verbessert. Außerdem lagen keine kritischen Related Party Transactions mehr vor. Allianz und Münchener Rück sind beide besonders stark in den Themen Diversität, Transparenz und Vergütungsstruktur. Deutlich aufgestiegen ist SAP. Wo hat der Software-Konzern nachgebessert?Wilhelm: SAP ist besonders hervorzuheben, denn das Unternehmen war im ersten Ranking 2016 noch auf dem vorletzten Platz gelandet. Danach hat der Konzern intensiv das Gespräch mit uns gesucht und ist mittlerweile auf Platz 3 aufgestiegen. Womit hat SAP gepunktet?Heinen: Vor allem im Aufsichtsrat hat sich SAP mit Blick auf Ämterhäufung und Unabhängigkeit deutlich verbessert. Kritisch war vorher der Vorsitz des Prüfungsausschusses, das Unternehmen hat hier nun die Unabhängigkeit sichergestellt. Adidas zeigt die stärkste Verbesserung nach Punkten, wobei das Unternehmen ja derzeit nicht gerade mit guten Schlagzeilen in den Medien ist?Heinen: Adidas hat sich deutlich von Rang 10 auf 6 verbessert. Positiv haben sich Transparenz, Aufsichtsratsbesetzung und Abbau der Ämterhäufung niedergeschlagen. Adidas veröffentlicht nun für jedes Aufsichtsratsmitglied, an welchen Aufsichtsrats- und Ausschusssitzungen es teilgenommen hat. Es gibt eine Regelgrenze für die Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat, die auch im Geschäftsbericht veröffentlicht wird. Außerdem erfüllt Adidas die Frauenquote von 30 % im Aufsichtsrat und hat die Mandatshäufung im Vorstand reduziert. Klarer Absteiger ist Bayer. Wo hat das Unternehmen nachgelassen?Heinen: Bayer ist im Vergleich zum Vorjahr um elf Ränge abgerutscht. Zur Abwertung führt, dass die Hauptversammlung den Vorstand 2019 nicht und den Aufsichtsrat nur sehr knapp entlastet hat. Punktabzug gibt es zudem wegen zwei Anträgen auf Sonderprüfung. Auch Linde ist im Ranking zurückgefallen. Muss man daraus ableiten, dass ein Sitz in Irland weniger Governance-Qualität abverlangt als einer in Deutschland?Heinen: Bei Linde mangelt es an Transparenz. So lässt sich zum Beispiel die Internationalität der Aufsichtsratsmitglieder nicht aus den Angaben des Unternehmens ermitteln. Schauen wir auf den MDax. Die Durchschnittsnote ist mit 2,8 deutlich schlechter als im Dax. Hängt gute Governance an der Unternehmensgröße?Wilhelm: Das Einstiegsniveau im MDax entspricht ziemlich genau dem ersten Zeugnis im Dax aus dem Jahr 2016. Wir hoffen, dass unser Ranking auch hier einen intensiven Dialog anstößt und zu einer vergleichbaren Lernkurve führt. Manchem MDax-Konzern kann man in der Governance allerdings heute schon Dax-Niveau bescheinigen. Einzelne Unternehmen hatten schon Kontakt zu uns gesucht, nachdem wir das Dax-Ranking veröffentlicht hatten. Morphosys führt die Rangliste an. Womit überzeugt der Biotech-Wert?Heinen: Das Unternehmen stellt viele Informationen transparent zur Verfügung und kann mit einer ausgeglichenen Gremienbesetzung punkten. Grand City Properties ist Schlusslicht und fällt sogar mit der Schulnote 6 durch. Was liegt hier im Argen?Heinen: Grand City Properties zeigt erhebliche Defizite in den Angaben zu Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern. Wichtige Informationen in den Lebensläufen fehlen. Auch die Vergütungsstrukturen sind intransparent und mangelhaft. Besonders kritisch sehen wir, dass der CFO neben seiner operativen Funktion gleichzeitig Chairman ist. Das Interview führte Sabine Wadewitz.