Das Internet nervt mit immer mehr Buchstaben

Insgesamt mehr als 800 Internet-Domains schaffen für Unternehmen mittlerweile Risiken, die selbst ein Konzern wie Google nicht ohne weiteres beherrscht

Das Internet nervt mit immer mehr Buchstaben

Für Internetadressen von Unternehmen stehen längst nicht mehr nur bekannte Domain-Endungen wie .com, .biz oder .org zur Verfügung. Mittlerweile gibt es mehr als 800 sogenannte generische Top Level Domains, die als Suffix einer Online-Adresse taugen. Das ermöglicht die leichtere Zuordnung zu bestimmten Themen oder Branchen, schafft aber auch Gelegenheiten für sogenannte Internet-Trolle oder Cybersquatter, sich über Unternehmen lustig zu machen und sie so unter Druck zu setzen.Von Stefan Paravicini, FrankfurtMit Internetadressen lässt sich einiger Schabernack treiben. Erst recht, seit die nichtstaatliche Non-Profit-Organisation Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die die Vergabe von einmaligen Namen und Adressen im Internet koordiniert, dazu übergegangen ist, der Nachfrage nach neuen, sogenannten generischen Top Level Domains (gTLD) mit einer deutlich zuvorkommenderen Genehmigungspraxis zu entsprechen.Mittlerweile stehen mehr als 800 solcher Kürzel zur Verfügung, die wie die schon länger gebrauchten Beispiele .com, .net oder .biz am Ende einer Internetadresse stehen. Sie bieten freilich nicht nur die Möglichkeit, Onlineadressen anhand ihres Suffixes genauer einem Bereich wie .museum, .paris oder .mil zuzuordnen. Sie schaffen auch neue Gelegenheiten für sogenannte Internet-Trolle oder Cybersquatter, Unternehmen und Organisationen aufs Korn zu nehmen, die sich nicht alle Domains in Verbindung mit dem eigenen Markennamen sichern. Abc.xyzBesonders beliebt unter den zuletzt von der ICANN genehmigten gTLDs sind die Endungen .xyz, .science oder .club, geht es nach einer Statistik, die die Münchner Softwarefirma Greensec auf dem Online-Portal Ntldstats pflegt. Seit Anfang 2014 wurden demnach allein 1,2 Millionen Domains mit dem Kürzel .xyz registriert. Das waren knapp 17 % aller in diesem Zeitraum angemeldeten Internetadressen mit einer der neuen Endungen (siehe Grafik).Eine der mehr als eine Million Domains mit den letzten drei Buchstaben des Alphabets am Ende nutzt seit einigen Tagen der Internetkonzern Google. Dessen neu geschaffene Muttergesellschaft, die Holding Alphabet, ist unter der Adresse abc.xyz zu finden. Doch auch ein Online-Konzern wie Google hat es mittlerweile schwer, in der Buchstabensuppe Internet den Überblick zu behalten. Die Adresse abc.wtf – wtf steht dabei für eine Wendung aus dem Englischen (“What the f***?”), die mindestens Verwunderung zum Ausdruck bringen soll -, hat sich das derzeit wertvollste Technologieunternehmen hinter Apple vor dem Launch von Alphabet offenbar nicht gesichert. Seit dem Start von abc.xyz verweist die Adresse abc.wtf im Internet jedenfalls auf die Suchmaschine Bing des Konkurrenten Microsoft. Ein Coup für MicrosoftAber einmal abgesehen von der Häme der Netzgemeinde, die auch dem Online-Marktplatz Ebay sicher war, als die Internetseite ebsy.co.uk auftauchte und jeden Kunden zum Konkurrenten Amazon vermittelte, dem ein auf einer Standardtastatur leicht auftretender Rechtschreibfehler unterlief – wie sind die potenziellen Schäden für Unternehmen zu bewerten, die mit Domain-Namen außerhalb der eigenen Kontrolle angerichtet werden können?”Es dauert Sekunden, um einen Domain-Namen zu registrieren und wenige Minuten, eine Website ins Internet zu stellen”, sagt dazu Stuart Fuller von Netnames, ein Spezialist für Online-Markenschutz wie auch Markmonitor oder Brandshelter. Reputationsschäden könnten deshalb sehr schnell entstehen, gerade weil neue Internetseiten von den Unternehmen selbst oft tagelang nicht bemerkt werden. Hinzu komme, dass rechtliche Schutzrechtsmechanismen nur sehr langsam arbeiten. Die Beweislast, die erforderlich ist, um anstößigen Inhalt von einem Domain-Namen aufgrund von Urheberrechtsverletzung entfernen zu lassen, führe oft zu wochenlangen, wenn nicht gar monatelangen Auseinandersetzungen. “Daher ist es für Unternehmen wichtig zu verstehen, welche Domain-Namen essenziell für ihre digitale Strategie sind – aus einer offensiven wie auch aus einer defensiven Sichtweise betrachtet.” Volkes StimmeIn die Defensive gedrängt fühlten sich viele Unternehmen, nachdem sich das Internet-Register Vox Populi zuletzt die gTLD .sucks gesichert hatte. Das Verb lässt sich aus dem Englischen mit viel Wohlwollen mit “es nervt” übersetzen. Unternehmen und andere Markeninhaber, die vermeiden wollten, dass ihr Firmenname in Zukunft mit der Endung .sucks im Internet gefunden werden kann, bietet Vox Populi die entsprechende Domain für wenigstens 1 999 Dollar pro Jahr an. Für besonderen Unmut sorgte, dass Vox Populi ankündigte, diesen Preis auch nach dem Ende der sogenannten “Sunrise-Phase”, in der Unternehmen ihre Domains noch vor der Allgemeinheit reservieren können, für Markeninhaber nicht zu reduzieren, Privaten aber zu deutlich vergünstigten Konditionen anzubieten.”Das aggressive Preismodell von Vox Populi ist ein unverhohlener Versuch, durch Erpressung von Markeninhabern Umsätze zu generieren”, sagt Gary McIlraith, CEO von Netnames, die bei den Wettbewerbshütern in Brüssel Beschwerde gegen das Internet-Register eingelegt hat. Verbrauchern den Domain-Namen .sucks zu niedrigen Preisen anzubieten, setze Unternehmen einem erheblichen Risiko aus, dass Cybersquatter die zu ihrer Marke passenden .sucks-Domains registrieren, um ihren Ruf zu schädigen. New York vs. BostonCEO John Berard inszeniert Vox Populi derweil geschickt als Forum für einen offenen Dialog über Markenversprechen und ihr tatsächliches Leistungsvermögen. Mit großflächigen Werbeanzeigen, etwa vor den Spielstätten der rivalisierenden Baseballteams Boston Red Socks (NewYork.sucks!) und New York Yankees (Boston.sucks!), hat der gelernte Kommunikationsprofi viel Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten der neuen Domain-Adresse erzeugt. Bis zum Ende der Sunrise-Phase Mitte Juni haben nach Einschätzung von Marktbeobachtern dennoch nur zwischen 1 000 und 3 000 Unternehmen und Markeninhaber ihre .sucks-Domain reserviert. Nach Angaben von Netnames haben aus Deutschland etwa BMW, Daimler und SAP sichergestellt, dass die Domain .sucks in Verbindung mit dem Firmennamen unter der eigenen Kontrolle bleibt. Laut dem Online-Portal Thedomains wurden auch die Adressen Allianz.sucks und Merck.sucks reserviert, wobei sich Letztere wohl der Pharmakonzern Merck Co. und nicht die Merck KGaA aus Darmstadt gesichert hat. Insgesamt sind mittlerweile mehr als 6 000 Internetadressen mit der Endung .sucks reserviert. Am eifrigsten waren wie zu erwarten Firmen wie CSC Corporate Domains, 101domain oder Netzwork Solutions, die für Firmenkunden das Domain-Management übernehmen.Freilich birgt auch besonderer Eifer bei der Abwehr von Risiken ein gewisses Risiko. So listet das Portal Thedomains derzeit genüsslich alle zehn .sucks-Adressen auf, die Facebook-Gründer Marc Zuckerberg in der Sunrise-Phase für sich reserviert hat (siehe Kasten). Der Multimilliardär will offenbar sicherstellen, dass ihn und auch auf seine Kosten online möglichst niemand nervt.Marktteilnehmer wie das Internet-Register 123-reg raten Firmen und Markeninhabern dazu, die reservierten .sucks-Adressen nicht nur zu parken, sondern zum Dialog mit Stakeholdern zu nutzen. Trenddaten von Google belegten, dass Markennamen häufig in Verbindung mit dem Verb gesucht würden. In den Dialog kann auch Google selbst eintreten. Die Adresse abc.sucks wurde nach Angaben von Ntldstats jedenfalls vor etwas mehr als einer Woche von Markmonitor im Auftrag von Google reserviert – zwei Tage, nachdem abc.wtf von einem Microsoft-Fan aus Wellington in Neuseeland angemeldet wurde.