IAA SERIE: AUTOINDUSTRIE UNTER STROM (18) - INTERVIEW MIT BERNHARD MATTES

"Der alte Maßstab greift zu kurz"

Der VDA-Präsident über die veränderten Anforderungen an die Automobilindustrie und die Branchenmesse IAA

"Der alte Maßstab greift zu kurz"

Herr Mattes, in wenigen Tagen startet die IAA Pkw. Eine große Anzahl von Herstellern hat sich dagegen entschieden, nach Frankfurt zu kommen. Jeep, Fiat, Toyota, Nissan, Volvo glänzen mit Abwesenheit, um nur einige zu nennen. Momentaufnahme oder besorgniserregender Trend?Zur IAA haben sich rund 800 Unternehmen angemeldet, darunter 40 Automobilmarken und über 240 Zulieferer. China ist mit den jungen Herstellern Hongqi, Byton und WEY vertreten. Zudem steht China mit 79 Ausstellern auf Platz 1 im internationalen Vergleich der Länder. Die Hersteller, die diesmal nicht dabei sein können, haben meist unternehmensspezifische Gründe. Und: Die Entscheidung gilt jeweils nur für 2019, nicht für künftige IAAs. Unser Ziel: Wir werden die IAA so attraktiv machen, dass auch diese Firmen beim nächsten Mal wieder dabei sein wollen. Die IAA ist die internationale Plattform für nachhaltige individuelle Mobilität der Zukunft. Sie bildet die gesamte Wertschöpfungskette ab, das macht sie einzigartig. Neben vielen Weltpremieren bietet die IAA mit der mehrtägigen “IAA Conference” und 200 internationalen Speakern ein umfassendes Kongressforum. Alle Mobilitätsthemen werden diskutiert, auch kontrovers. So richtig gefruchtet haben die Anreize aber doch nicht angesichts der Absagen?Die Automobilindustrie befindet sich in einem enormen Transformationsprozess. Die Treiber sind Elektromobilität und Digitalisierung. Auch die IAA ändert sich und richtet sich neu aus. Dafür stehen die vier Formate der IAA: IAA Conference, IAA Exhibition, IAA Experience und IAA Career. Bemerkenswert ist die hohe Anziehungskraft der IAA für bislang branchenfremde Unternehmen: Die größten IT- und Tech-Firmen – etwa Microsoft, Google, Facebook oder SAP – haben die IAA als Plattform gewählt, um über die Mobilität der Zukunft zu sprechen und neue Konzepte vorzustellen. Hinzu kommen viele Mobilitätsdienstleister und Startups. Die IAA ist längst mehr als eine reine Automesse. Insofern greift auch der alte Maßstab – Zahl der Hersteller, vermietete Quadratmeter – zu kurz. Wichtig für den Erfolg ist, dass wir die relevanten Themen umfassend behandeln. Im digitalen Zeitalter zählt nicht nur Hardware. Aber das neue Konzept verträgt schon noch etwas Feinschliff?Wir erwarten, dass das neue IAA-Konzept Besucher und Aussteller überzeugen wird. Die IAA ist kein unbeweglicher Block, sondern ein dynamischer Prozess. Daher werden wir bei unserer Zukunftsplanung alle wichtigen Aspekte berücksichtigen und diese Plattform der Mobilität weiterentwickeln. Ein anderer Zeitpunkt – etwa früher im Jahr – ist aber kein Thema?Wir halten den IAA-Termin im Herbst für passend. Es gibt keine Überschneidung mit anderen Messen, das Septemberwetter spielt meist auch mit. Allerdings ist nichts in Stein gemeißelt. Über Details sprechen wir erst, wenn das neue Konzept erarbeitet, mit Mitgliedsunternehmen diskutiert und verabschiedet ist. Das wird noch einige Monate dauern. Ein großes Thema bei der diesjährigen IAA wird die Elektromobilität sein. Wie sehen Sie die deutsche Autoindustrie hier aufgestellt?Schauen wir uns den Marktanteil in Deutschland an: Jedes zweite Elektroauto, das im bisherigen Jahresverlauf neu zugelassen wurde, kommt von deutschen Herstellern. Unsere Unternehmen sind gut aufgestellt: Allein in den kommenden drei Jahren investieren sie 40 Mrd. Euro in die Elektromobilität, bis 2023 werden sie ihr E-Modell-Angebot auf 150 verfünffachen. Das heißt: Künftig werden in jedem Segment Modelle mit E-Antrieb zu finden sein, batterieelektrisch oder als Plug-in-Hybrid. Weltweit stammt jedes dritte Patent im Bereich Elektromobilität und Hybridantrieb aus Deutschland. Die deutsche Automobilindustrie agiert also aus einer starken Position heraus, sie legt sich bei der Elektromobilität richtig ins Zeug. Das gilt für Hersteller und Zulieferer. Modellvielfalt ist nur ein Erfolgsfaktor. Wie zufrieden sind Sie mit den Rahmenbedingungen? Bei der Ladeinfrastruktur hapert es noch gewaltig.Derzeit haben wir in Deutschland etwas mehr als 20 600 öffentliche Ladepunkte. Das ist viel zu wenig. Damit die anspruchsvollen CO2-Emissionsziele im Jahr 2030 erreicht werden, muss die Elektromobilität einen steilen Hochlauf haben. Anders ausgedrückt: Auf Deutschlands Straßen werden dann 7 bis 10,5 Millionen elektrifizierte Autos fahren. Das wird nur möglich sein, wenn auch die entsprechende Ladeinfrastruktur rasch und nachhaltig aufgebaut wird. Wir brauchen bis dahin mindestens eine Million öffentliche Ladepunkte und 100 000 Schnellladepunkte. Hinzu kommen noch einige Millionen Ladepunkte im privaten Bereich. Notwendig hierfür sind zudem neue rechtliche Rahmenbedingungen – bei Gebäudevorschriften, im Mietrecht und an anderer Stelle. Daran arbeitet die Politik. Wie sieht es international aus?Momentan stehen 75 % der Elektroladesäulen in vier von 28 EU-Ländern. Eine flächendeckende Ladeinfrastruktur in Europa gibt es also noch nicht. Diese ist aber mittelfristig erforderlich, wenn E-Autos wirklich attraktiv für weite Teile der Bevölkerung Europas werden sollen. Angesichts der gesunkenen Anteile von Diesel-Fahrzeugen an den Neuzulassungen sind höhere Anteile elektrifizierter Fahrzeuge für das Erreichen der CO2-Emissionsziele wichtiger denn je. Sind die deutschen Hersteller mit Verspätung auf gutem Weg?Es gibt kaum eine andere Automobilnation, die bei der Elektromobilität mit so hoher Geschwindigkeit unterwegs ist. Das betrifft nicht nur die Automobilhersteller, sondern auch viele Zulieferer. Getrieben wird die Entwicklung von den CO2-Flottengrenzwerten der EU. Jedes Unternehmen hat seine Strategie, wie es die Emissionen senken kann. Da bin ich zuversichtlich – aber nur dann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, also die Ladeinfrastruktur aufgebaut wird. Wir im VDA sind davon überzeugt, dass für das CO2-Ziel 2030 die Elektromobilität essenziell ist, weil sie den größten Hebel darstellt. Über das Jahr 2030 hinaus forschen unsere Unternehmen bereits an weiteren Alternativen, die nötig sein werden. Auch das ist Konsens in der Industrie. Weniger Konsens herrscht über den Diesel. Noch immer verursacht der Diesel-Skandal Milliardenkosten. Im Ausland wird der Selbstzünder zum Teil schon aufgegeben. Kann sich der Diesel noch einmal erholen?Bei den Pkw-Neuzulassungen hat sich der Dieselanteil bei etwa einem Drittel stabilisiert. Warum? Der moderne Euro-6d-Diesel ist sehr effizient im Verbrauch und weist geringste Stickoxidemissionen auf. Das überzeugt viele Kunden. Wir brauchen den Diesel, um die CO2-Ziele zu erreichen, er ist Teil der Lösung. Übrigens gehen die Stickoxid-Messwerte in den Städten auch deshalb zurück, weil Jahr für Jahr rund eine Million neuer Diesel-Pkw auf die Straße kommen, während ältere Fahrzeuge aus dem Bestand ausscheiden. Gerade für Vielfahrer, die oft lange Strecken zurücklegen müssen, ist der Diesel auch weiterhin die richtige Wahl. Das ist jetzt sehr technisch begründet. Psychologisch könnte die Erfahrung der vergangenen Jahre dennoch eine Hürde bei den Kunden aufgestellt haben?Die Zulassungszahlen sprechen eine andere Sprache. Auch auf dem Gebrauchtwagenmarkt zieht die Nachfrage nach Euro-6-Diesel an. Offenbar können die Kunden rechnen: Wer einen neuen Diesel fährt, hat ein Auto, das mit seinen Vorteilen im Verbrauch überzeugt. Sauber ist er sowieso. Beim Thema Verbrauch werden immer Hersteller und Fahrzeuge ins Visier genommen. Dabei ist auch der Verkehrsfluss ein Faktor. Die Baustellenhäufung in Deutschland schränkt den Verkehrsfluss ein und wirkt sicher nicht emissionsmindernd. Sehen Sie da Verbesserungspotenzial?Wir haben schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu gering sind. Jetzt tut sich etwas, die Infrastruktur wird auf Vordermann gebracht. Die Bundesregierung hat die entsprechenden Budgets kräftig aufgestockt. Das bedeutet, dass wir derzeit deutlich mehr Autobahnbaustellen haben als früher. Für den Autofahrer, der gerade auf solchen Strecken unterwegs ist, mag das unerfreulich sein, aber es gibt keine überzeugende Alternative zur Modernisierung der Infrastruktur. Gleiches gilt für die Schiene, auch da wird in den nächsten Jahren viel passieren. Das ist richtig und notwendig. Eine leistungsstarke Infrastruktur ist ein wesentlicher Standortvorteil. Eine interne Baustelle war lange der Streit über die Richtung der Förderung alternativer Antriebe. VW setzt stark auf batterieelektrisch, BMW und Daimler auf Plug-in-Hybrid. Ist der Streit beigelegt?Dass es bei über 600 Mitgliedsunternehmen auch unterschiedliche Meinungen gibt, ist nicht überraschend. Der VDA ist die Plattform, um auch strittige Punkte im Diskurs zu behandeln. Das gehört zu einem lebendigen Verband dazu. Noch wichtiger ist, dass wir zu den relevanten Fragen gemeinsam klare Positionen erarbeitet haben, die von allen getragen werden. Es brodelt also nicht mehr unter der Oberfläche?Nein, alle sind fokussiert auf die Mobilität der Zukunft, das werden wir auf der IAA sehen können. Wir sind uns einig, dass wir für das 2030-Ziel die Elektromobilität mit aller Kraft vorantreiben müssen. Dass es in den Unternehmen dazu unterschiedliche Strategien im Produktportfolio gibt, ist Zeichen des Wettbewerbs. Aber alle wissen auch, dass die Interessen der Automobilindustrie nur dann gegenüber Politik und Gesellschaft wirkungsvoll vertreten werden können, wenn die Branche geschlossen auftritt. Die Zukunft hält eventuell nicht nur E-Autos und autonomes Fahren bereit, sondern auch Einschränkungen wie strengere Tempolimits. Die Grünen legen bundesweit zu und befürworten diese. Sind die nicht überfällig?Tempolimits ergeben nur dann Sinn, wenn sie spürbar zu geringeren Emissionen führen. Generell Tempo 30 in Städten bringt eher das Gegenteil: Es erhöht Verbrauch und Emissionen. Und: Die Autofahrer weichen auf bisher ruhige Wohnstraßen aus, weil sie auf den großen, mehrspurigen Straßen durch die Stadt nicht schneller vorankommen. Das ist der falsche Weg. Vor Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern macht Tempo 30 Sinn – und wird meist bereits umgesetzt. Auf der Autobahn befürworten wir intelligente Lösungen, also flexible Geschwindigkeitsregeln, die sich den jeweiligen Witterungs- und Verkehrsbedingungen anpassen. Das heißt: Bei Regen, Nebel oder dichtem Verkehr runter mit der Geschwindigkeit; bei trockener Fahrbahn, guter Sicht und wenig Verkehr gilt Richtgeschwindigkeit. Das akzeptiert der Autofahrer, weil er es versteht. Ein starres Tempolimit auf Autobahnen hätte kaum CO2-Effekte und wäre eher eine Maßnahme mit Symbolcharakter. Flüssiger wird der Verkehr dadurch nicht, eher zäher. Weniger flüssig lief es zuletzt auf dem chinesischen Automarkt, der 2019 das zweite Jahr in Folge schrumpfen dürfte. Die Regierung in Peking will da entgegenwirken. Wie schätzen Sie die Chancen auf eine baldige Trendwende ein?Offenbar spüren die chinesischen Verbraucher zunehmend die Auswirkungen des Handelsstreits mit den USA und stellen deshalb Kaufentscheidungen gerade im Volumensegment öfter zurück. Im Premiumsegment ist dank der hohen Attraktivität unserer Autos das Interesse nach wie vor groß. Deshalb ist auch unser Marktanteil dort im bisherigen Jahresverlauf um zwei Prozentpunkte auf 24 % gestiegen. Der chinesische Pkw-Markt hat noch viel Potenzial, der Bedarf ist noch lange nicht gedeckt. Allerdings müssen auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingen insgesamt stimmen, damit die Wachstumskurve wieder nach oben zeigen kann. Wie sieht es für die deutschen Hersteller in den USA aus?Der Markt ist recht stabil auf hohem Niveau. Der Trend geht seit Jahren hin zu Light Trucks, ihr Anteil am Gesamtabsatz ist doppelt so groß wie der des Pkw-Segments. Wir gewinnen Marktanteile im wachsenden Light-Truck-Segment, weil unsere Hersteller Produkte anbieten, die in Qualität, Sicherheit, Effizienz, Komfort und Design die Kunden überzeugen. Wir haben auch gegenüber der US-Administration betont, dass höhere Auto-Importzölle für beide Seiten nur Nachteile bringen würden. Selbst die US-amerikanischen Automobilhersteller halten nichts von höheren Zollschranken. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass die US-Administration bis zu den Wahlen im kommenden Herbst von Zöllen auf Autos aus der EU absehen wird?Ich halte nichts von Spekulationen. Jetzt geht es darum, dass die Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und der US-Administration vorangetrieben und vernünftige Ergebnisse erzielt werden. Die Zeit drängt. Freier und fairer Handel würde für alle – Industrie und Kunden – Vorteile bringen. Wir hätten auch nichts dagegen, wenn die Zölle auf beiden Seiten auf null gesetzt würden. Ein akutes Problem droht mit dem Brexit noch in diesem Jahr. Der ungeordnete Austritt Großbritanniens aus der EU wird immer wahrscheinlicher. Wie sind die Autobauer vorbereitet? Haben Sie überschlagen, welche Kosten auf die deutsche Autoindustrie zukommen könnten?Die Ereignisse in Großbritannien überstürzen sich. Das Unterhaus hat einem Gesetz zugestimmt, das Premierminister Johnson verbieten soll, am 31. Oktober einen No-Deal-Brexit umzusetzen. Auch Neuwahlen sind nicht auszuschließen. Alle Beteiligten sollten besonnen agieren und daran arbeiten, einen Hard Brexit noch abzuwenden. Dieser hätte für Bürger und Unternehmen in Großbritannien und Europa schwerwiegende Konsequenzen. Die Betriebe auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind enorm eng miteinander verbunden. Ohne geordnete und praktikable Lösungen für den Wirtschaftsverkehr stehen auch Jobs in der Automobilindustrie, insbesondere auf der britischen Seite, auf dem Spiel. Eines ist sicher, auch ohne “Kostenrechnung”: Ein ungeregelter Brexit wird für alle teuer. Hinzu kommen viele offene Punkte wie Freizügigkeit für Mitarbeiter und EU-Bürger oder das Funktionieren der Zollabfertigung. Wir hoffen, dass Großbritannien und die EU zu einer vernünftigen Lösung finden. Der Ball liegt aber derzeit beim Vereinigten Königreich. Für alle Beteiligten ist es wichtig, einen harten Brexit zu vermeiden. Das Interview führte Sebastian SchmidZuletzt erschienen: Schlaglöcher beim Umstieg auf die E-Mobilität (4.9.) Große Herausforderung für kleinere Zulieferer (29.8.) Spannungsaufbau für Ladesäulen (23.8.) Tankstellenbetreiber überlassen “E-Zapfsäulen” anderen (16.8.)