Der IPO-Boom geht bisher an Frankfurt vorbei
Rund um den Erdball boomen IPOs mit hohen Bewertungen. In Frankfurt herrscht im Vergleich dazu Flaute. Es gibt hierzulande weniger Technologie-Unternehmen, die an die Börse streben. Genau die jedoch werden von den Investoren in der Coronakrise gesucht. In den USA erzielen sie höhere Bewertungen. cru Frankfurt – Weltweit sind die Emissionserlöse aus Börsengängen im Jahr 2020 bis dato auf den höchsten Stand seit 2014 gestiegen. Vor allem Tech-IPOs in New York und Schanghai boomen mit stetig wachsenden Bewertungen und 35 Mrd. Dollar IPO-Einnahmen. Dort gab es bis dato mehr als 200 Tech-IPOs. In Europa dagegen sind es bis dato nur 16. In Deutschland sieht es noch mauer aus: Das Emissionsvolumen aus IPOs im Jahr 2020 ist hierzulande mit bis dato 329 Mill. Euro aus drei Börsengängen absehbar auf dem niedrigsten Stand seit dem Krisenjahr 2009 angelangt. Von den Top-10-Börsengängen weltweit stammt kein einziger aus DeutschlandZwar war es im September 2016 ähnlich mau. Aber dann folgte im Oktober noch der voluminöse Börsengang der – inzwischen allerdings schon wieder vom Kurszettel verschwundenen – RWE-Tochter Innogy. Ein vergleichbar starker später Schub im Herbst zeichnet sich für dieses Jahr nicht mehr ab.Der IPO-Boom geht also am Börsenplatz Frankfurt bisher zu großen Teilen vorbei. “Das liegt daran, dass Investoren derzeit vor allem auf Technologie-, Software-, Healthcare- und Biotech-Unternehmen setzen. Davon gibt es in Deutschland eben weniger”, sagte Stefan Weiner, Leiter der Abteilung für Börsengänge in Nordeuropa der US-Bank J.P. Morgan, der Börsen-Zeitung. Es handele sich um eine Sektorrotation, die aus der Covid-Krise resultiert.Tatsächlich stammen die Börsenaspiranten in Deutschland aus völlig anderen Branchen. Die nächsten drei IPOs sind der Wohnmobilhersteller Knaus Tabbert, der Rüstungselektronikspezialist Hensoldt und der Wissenschaftsverlag Springer Nature. Selbst wenn alle drei ihr Debüt gut über die Bühne bringen, wird das IPO-Volumen 2020 hierzulande kaum noch das schon schwache Vorjahresniveau von 4 Mrd. Euro erreichen können. Atotech geht nach New YorkInvestoren beklagen den Mangel an europäischen Champions, die mit US-Schwergewichten wie Apple und der Google-Mutter Alphabet konkurrieren könnten, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Region in absehbarer Zeit einen solchen Champion hervorbringt. Europas größtes Problem ist die Knappheit an Technologieunternehmen, die zunächst als Einhörner und Start-ups starten. Sogar für diejenigen, die in der Region neu gegründet werden, werden die USA oft zum größten Markt.Selbst ein klassisches Industrieunternehmen wie der Spezialchemiekonzern Atotech aus Berlin – ein Spezialist für Oberflächenveredelungen in der Smartphone-Industrie, der dem Finanzinvestor Carlyle gehört – geht nicht in Frankfurt oder Amsterdam an die Börse, sondern in New York.”Meist wird als Grund dafür angeführt, dass die Investoren dort besser mit den Technologie-Branchen vertraut sind, das Kapital dort sitzt und höhere Bewertungen erzielt werden können. Es gibt aber auch einen aktuellen Grund für die deutsche IPO-Schwäche. Die Investoren setzen eher auf Branchen, die weniger stark von der Coronakrise betroffen sind oder davon profitieren, wie etwa E-Commerce, Healthcare oder Biotech”, sagt Hendrik Riehmer, Co-Chef der Bank Berenberg.In Deutschland fehlen nicht nur die Tech-IPOs – die Start-up-Schmiede Rocket Internet verlässt sogar die Börse. Die Gründe für diesen Schritt sind nur allzu bekannt: Der Zugang zu privater Finanzierung ist so einfach, dass eine Börsennotierung kaum notwendig ist. Viel Private-Equity-KapitalDagegen verweist Goldman-Sachs-Europa-Chef Wolfgang Fink darauf, dass die Schwäche bei IPOs ausgeglichen wird durch einen Boom für Kapitalerhöhungen, Umplatzierungen und Wandelanleihen in Europa, die ebenfalls frisches Eigenkapital für die Unternehmen beschaffen: “Wir haben so viele und umfangreiche neue Aktienemissionen wie seit 2015 nicht mehr”, sagt Fink.Während Private-Equity-Investoren mit ihren vollen Kassen bei Unternehmenskäufen die Bewertungen nach oben treiben, wehren sich viele europäische Aktieninvestoren an der Börse gegen die hohen Preise bei IPOs. Die Bewertungslücke ist im Vergleich zu den USA und Asien noch ausgeprägter, was eine Börsennotierung diesseits des großen Teichs für Technologieunternehmen noch unattraktiver macht. Würde Tesla in Europa notiert, wäre der gehypte Elektroautokonzern die Hälfte wert. Die Cloud-Softwareschmiede Snowflake wird beim IPO in den USA dagegen gerade mit 30 Mrd. Dollar bewertet – dem 60-Fachen des gegenwärtigen Umsatzes.Die beiden einzigen großen europäischen E-Commerce-Börsengänge Allegro und The Hut Group finden derweil in Warschau und London statt. Es gibt Stimmen von Unternehmern, die die Frustration über den hiesigen Finanzplatz offen zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel der Chef des Enzymherstellers C-Lecta, einer Ausgründung der Universität Leipzig, Marc Struhalla: “Viele Biotech-Firmen gehen letztlich durch das Börsendebüt oder schon für frühere Kapitalrunden in die USA”, sagt Struhalla. “Qiagen hat das schon 1996 vorgemacht, und mittlerweile ist das Routine: Morphosys, Centogene, Biontech, Curevac – das sind alles spannende, innovative Unternehmen aus Deutschland. Alle sind an der Nasdaq gelistet.” “US-Investoren risikobereit”Der Grund, nach Amerika auszuwandern, sei für Biotechs, dass es in den USA mehr Kapital gebe. “Ich glaube nicht, dass das nur an der Erfahrung und der Branchenkenntnis der US-Amerikaner liegt. Schlaue Leute gibt es in Deutschland auch. Das hat aber viel mit Risikobereitschaft zu tun: US-Amerikaner sind einfach risikobereiter. Der Deutsche wartet eher ab, bis ein Enzym am Markt angenommen wird, da hat der US-Amerikaner schon die Forschung finanziert und die Patente gesichert.”Die Deutschen sind als Wissenschaftler nach Ansicht von Struhalla gut darin, Dinge neu auszutüfteln. “Briten und Amerikaner, aber auch Investoren aus Frankreich und Benelux scheinen jedoch aktuell den besseren Riecher zu haben, wenn es darum geht “the next big thing” zu erkennen und als Investoren etwas zu wagen.” Es gibt laut Struhalla durchaus deutsche Investoren, die mit Biotechnologie Erfolg haben – einige seien bei C-Lecta investiert.”Biotech-Firmen sind sehr unterschiedlich. C-Lecta zum Beispiel zählt als ,weiße` Biotechnologie, unser Anwendungsbereich ist die Industrie. Das ist ein ganz anderer Zielmarkt und ein ganz anderes Risikoprofil als ,rote` Biotechnologie mit ausschließlich medizinischen Anwendungen.”Auch C-Lecta, die bereits 70 Mitarbeiter beschäftigt, könnte mit den Enzymen für Süßstoffe bald zum Börsenkandidaten werden – allerdings wahrscheinlich nicht in Deutschland. “Auch wir werden immer wieder und immer häufiger von Investoren angesprochen. Und diese Investoren kommen zumeist aus dem angelsächsischen Raum, da ist das Interesse einfach größer.”