Der Schlaf entwickelt sich vom Defizit zum Leistungssport
Von Stefan Paravicini, New YorkDer Schlaf galt in Führungszirkeln lange Zeit als Defizit, als allzumenschlicher Makel. Ein Manager, der von sich sagen konnte, dass er täglich mit vier Stunden Schlaf auskommt und gerne auch mit weniger, wenn es die Aufgabe erforderlich macht, konnte sich der Anerkennung seiner Kollegen sicher sein. Die Legenden über durchwachte Nächte im Büro sind in jeder Firma, die etwas auf sich hält, Legion. Noch vor sechs Jahren widmete das US-Nachrichtenportal “Business Insider” dem Thema eine Geschichte unter der Überschrift “18 erfolgreiche Menschen, die fast ohne Schlaf auskommen”. Der Tag habe nur 24 Stunden und selbst Wirtschaftstitanen könnten daran nichts ändern, räumte der Autor in seiner Einleitung mit Bedauern ein. “Aber einige der erfolgreichsten Menschen der Welt arbeiten nicht nur extrem hart in den Stunden, die ihnen zur Verfügung stehen, sie schaffen auch mehr davon, indem sie auf Schlaf verzichten”, hieß es mit unverhohlener Bewunderung.Das Nachtwandeln im Büro mit dem unbedingten Willen, dem Schlaf für den Erfolg ein Schnippchen zu schlagen, hat seither viel Ansehen verloren. Unter anderem die Manager-Postille “Harvard Business Review” hat bereits 2016 erhoben, dass es zum großen Erstaunen von Schlafasketen in der C-Suite einen positiven Zusammenhang zwischen ausreichendem Schlaf und effektiver Führung gibt. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben außerdem nachgewiesen, dass Schlafmangel statt zu Erfolg in den meisten Fällen vor allem zur Schwächung des Immunsystems sowie zu Gedächtnisproblemen führt und darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit von Depressionen, Übergewicht, Diabetes und Krebserkrankungen erhöht. “Schlechter Schlaf macht dich fett, traurig und bringt dich um”, fasste die “New York Times” 2017 unter der Überschrift “Schlaf ist das neue Status-Symbol” zusammen.Im gleichen Jahr erklärte ausgerechnet Jeff Bezos, der mittlerweile zum reichsten Mann der Welt aufgestiegen ist, dass er großen Wert darauf lege, jeden Tag acht Stunden Schlaf zu bekommen. “Wenn du deinen Schlaf verkürzt, bringt dir das zwar ein paar produktive Stunden mehr, doch diese Produktivität könnte eine Illusion sein”, erklärte Bezos damals in einem Interview mit dem Fernsehsender CNBC. Es gehe in seiner Position darum, wenige wichtige Entscheidungen richtig zu treffen, statt sich jeden Tag um eine große Zahl von Entscheidungen zu kümmern, sagte Bezos. Sein ausgedehnter Schlaf seit deshalb gut für die Aktionäre, versicherte der Gründer des Online-Händlers Amazon, der in seinen Anfängen häufig einen Schlafsack mit ins Büro brachte.”Große Männer brauchen weniger Schlaf”, lautete ein Rat, den der ehemalige US-Präsident Bill Clinton von einem Professor an der Georgetown- Universität erhielt, weshalb er sich fortan auf fünf bis sechs Stunden beschränkte. Professoren, die sich nicht nur mit großen Männern, sondern auch mit Schlaf beschäftigen, neigen zu einer anderen Einschätzung. “Schlafen ist das Beste, was du machen kannst, um dein Gehirn und deinen Körper zu resetten”, sagt Matthew Walker, Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität Berkeley, wo er das “Sleep and Neuroimaging Laboratory” leitet. Sein Buch “Why we Sleep. Unlocking the Power of Sleep and Dreams” entwickelte sich 2017 zum Bestseller und zog das Interesse vieler Firmen auf sich, die Walker heute mit Blick auf die Unterstützung eines gesunden Schlafverhaltens ihrer Mitarbeiter berät.Wer jetzt glaubt, dass man demnächst unter Verweis auf wissenschaftliche Studien und das Schlaflabor von Professor Walker zum Wohl der eigenen Aktionäre etwas früher die Decke über den Kopf ziehen und vielleicht auch einmal etwas länger in den Tag dösen kann, weil es der circadiane Rhythmus, die innere Uhr, anzeigt, sei allerdings schon einmal vorgewarnt. Denn die Ansprüche an den Schlaf steigen. Da seine Bedeutung für Gesundheit und Leistungsfähigkeit (wieder) entdeckt sind, haben sich neben Schlafforschern längst auch Start-ups und Risikokapitalgeber an die Vermessung des Schlummers gemacht, um die Schlafleistung zu optimieren. Im Schlummer zu MessdatenWer seinen Schlaf bisher als Defizit verstanden hat, könnte deshalb schon bald in die Verlegenheit geraten, nachweisen zu müssen, kein Schlafdefizit zu haben. Der Unternehmer Bryan Johnson, CEO von Kernel, die an Schnittstellen zwischen dem menschlichen Gehirn und Computern arbeitet, hat vor kurzem einen Vorgeschmack auf Schlaf als Leistungssport gegeben, als er seine Schlafroutine in einem Blogeintrag veröffentlicht hat. Sie habe das Niveau seines Tiefschlafs um 157 % gesteigert, wie er unter Berufung auf die Auswertung eines Schlaftrackers der Marke Oura fröhlich mitteilt.Bei Kernel hat mittlerweile jeder Mitarbeiter vom Chef einen Schlaftracker erhalten. Wenn Sie von ihrem Vorgesetzten oder von ihren Aktionären demnächst aufgefordert werden, die Leistungsdaten ihres Schlafs auszuwerten, lassen Sie sich eine Ausrede einfallen. Sagen Sie bloß nicht, dass sie eh mit vier Stunden oder weniger auskommen.