Deutsche Wirtschaft sorgt sich nach Referendum um die Türkei
BZ Berlin/Frankfurt – Die deutsche Wirtschaft sorgt sich um die Folgen des knappen Siegs von Präsident Recep Tayyip Erdogan beim Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei. Das Land “entfernt sich damit weiter von europäischen Grundwerten”, sagten nahezu unisono BDI-Präsident Dieter Kempf und Anton Börner, der Chef des Außenhandelsverbands BGA. Dabei geht fast die Hälfte aller türkischen Ausfuhren in die EU, etwa ein Zehntel nach Deutschland, ermittelte Germany Trade & Invest (GTAI). Diesen Exporten von 15,3 Mrd. Euro standen 2016 Einfuhren aus Deutschland von 21,9 Mrd. gegenüber (siehe Grafik). Nach Daten des Statistischen Bundesamts standen Kraftwagen, Zulieferteile und sonstige Fahrzeuge mit zusammen 6,8 Mrd. Euro für nahezu ein Drittel der letztjährigen deutschen Exporte in die Türkei. Auch in umgekehrter Richtung machen automobile Güter mit 2,8 Mrd. Euro einen nennenswerten Teil des gegenseitigen Handels aus – nur getoppt von Bekleidung, mit der Firmen aus Kleinasien im Vorjahr gut 3,3 Mrd. Euro erlösten.Nach BDI-Angaben steht die Türkei für deutsche Ausfuhren auf dem 15. Platz. Rund 6 800 hiesige Unternehmen seien am Bosporus und in Anatolien aktiv. GTAI beziffert den Bestand deutscher Direktinvestitionen in der Türkei 2014 auf 9,2 Mrd. Euro. Dem BDI zufolge sei das Land auf ausländische Direktinvestitionen angewiesen, die 2016 bereits um fast ein Drittel eingebrochen seien. Und Besserung ist laut Börner nicht in Sicht, hätten doch Entscheidungen Ankaras in den letzten Monaten die Beziehungen zur deutschen Wirtschaft stark belastet. “Es sind viele Unsicherheiten entstanden, die dazu führen, dass ausländische Unternehmen sich mit Investitionen in der Türkei schwertun und viele Entscheidungen auf Eis gelegt haben.”Neben der hiesigen Autoindustrie erwirtschaften vor allem die Maschinenbauer nennenswerte Umsätze in der Türkei bei Exporten im Wert von knapp 4,3 Mrd. Euro. “Für die deutsche Wirtschaft ist wichtig, dass sich die Lage in der Türkei stabilisiert und dass verlässliche Rahmenbedingungen für Unternehmen gewährleistet werden”, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben. Fraport erhofft schwarze NullDer Flughafenbetreiber Fraport hat sich für dieses Jahr mit seinem Engagement am südtürkischen Airport Antalya ein ausgeglichenes Ergebnis vorgenommen, nachdem die Beteiligung zuletzt mit 32 Mill. Euro tief in die roten Zahlen gerutscht war. Der Touristenflughafen war lange wichtigster Ergebnisbringer des externen Geschäfts von Fraport und verdiente noch 2014 bei 28 Millionen abgefertigten Passagieren 85 Mill. Euro. Die Terroranschläge in Istanbul, aber auch das Ausbleiben der wichtigen russischen Pauschaltouristen hatten 2016 die Zahl der Fluggäste um fast ein Drittel auf 19 Millionen einbrechen lassen. Und für die ersten drei Monate 2017 wurde ein weiteres Minus von 10 % festgestellt. Werden türkische Reiseziele nun auch wegen des Referendums weiter gemieden, bleibt die Gewinnzone wohl außer Reichweite.Eine der frühesten Fabriken deutscher Unternehmen hat der Autokonzern Daimler in der Türkei errichtet, der dort seit 1967 Busse und seit 1986 Lkw der Marke Mercedes-Benz fertigt und aktuell mehr als 6 000 Mitarbeiter beschäftigt. “Unsere Produktions- und Vertriebsaktivitäten in der Türkei laufen normal”, sagte eine Konzernsprecherin. “Wir haben derzeit keinen Anlass, Änderungen an unseren Planungen für die weitere Entwicklung unseres Unternehmens in der Türkei vorzunehmen.” Perspektivisch sehe Daimler in der Region Wachstumspotenzial, vor allem weil das Land ein Tor zum Nahen Osten sei. Momentan kann von Wachstum aber keine Rede sein: Der Lkw-Absatz in der Türkei hat sich 2016 auf 9 300 Einheiten gut halbiert – was jedoch auch auf Vorzieheffekte wegen der Einführung strengerer Abgasvorschriften zurückzuführen war. Da durch die angespannte Lage der Tourismus eingebrochen ist, falle auch das Busgeschäft “fast komplett weg”, hatte Hartmut Schick, Leiter der Bussparte, der Börsen-Zeitung kürzlich gesagt.Im Münchner Nutzfahrzeugekonzern MAN ist das Werk in Ankara mit knapp 2 500 Mitarbeitern die größte Busfabrik. Zum Ausgang des Referendums will sich ein MAN-Sprecher nicht äußern – wie alle anderen befragten Unternehmen. Die Unruhe in und um die türkische Politik hat MAN zufolge bisher keine Folgen für die Produktion in der Türkei: “In den letzten Monaten haben wir keine Einschränkungen erfahren.” Und es gebe keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändere. Der seit einigen Jahren schrumpfende Markt für Lkw und Busse in der Türkei trifft aber auch die Münchner.Für den Handelskonzern Metro zählt die Türkei neben Russland, Indien und China zu den Expansionsländern. Betrieben werden 32 Großhandelsmärkte und 45 Media-Markt-Standorte. Insgesamt entfällt auf die Türkei ein Umsatzanteil von fast 4 %. Nach vorn geblickt rechnet Metro zwar mit einem Rückgang der Wirtschaftsdynamik, doch: “Wir sehen auch zukünftig Möglichkeiten, unsere Dienstleistungen in der Türkei weiterzuentwickeln”, sagte ein Sprecher. “Hierzu sehen wir mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Modernisierung der Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei.” Türkei Teil des KerngeschäftsBei Eon liegt die operative Führung des Türkei-Geschäfts in den Händen von Konzernchef Johannes Teyssen. Der Energieriese ist in dem Land über Enerjisa aktiv, ein 50/50-Joint-Venture mit der türkischen Sabanci-Gruppe, dem größten Finanz- und Industriekonglomerat des Landes. Das Unternehmen ist der größte private Stromerzeuger der Türkei, der dort neun Millionen Menschen versorgt. Mehr als die Hälfte der installierten Kapazität von 2,7 Gigawatt entfällt auf erneuerbare Energien. “Es gibt keine neue Bewertung des Türkei-Geschäfts. Es ist Teil des strategischen Kerngeschäfts”, betonte Teyssen kürzlich. Berlin bremst RheinmetallFür Rheinmetall gestalteten sich Rüstungsgeschäfte mit dem Nato-Partner Türkei auch schon vor dem Referendum schwierig. Einige Aufträge für Munitionsexporte liegen derzeit auf Eis und werden von der Bundesregierung für eine Freigabe geprüft. Zudem befindet sich Rheinmetall in Gesprächen mit der türkischen Regierung über die Lieferung eines Schutzsystems für die Leopard-Panzer des Landes. Die Armee hat in jüngster Zeit bei Kämpfen gegen die Miliz “Islamischer Staat” an der Grenze zu Syrien zehn Leopard-Panzer durch Raketenbeschuss verloren. Ob das System geliefert wird, hängt von der Zustimmung Berlins ab.Für die deutsche Chemieindustrie spielt die Türkei eine untergeordnete Rolle. Deswegen verwundert es auch nicht, wenn Unternehmen wie Lanxess oder Evonik erklären, dass es nicht zu einer Neubewertung des Türkei-Engagements komme. Wie Bayer erzielen beide Unternehmen nur gut 1 % des Konzernumsatzes in der Türkei. Wie Henkel beobachtet auch der Modekonzern Hugo Boss “die Entwicklungen in der Türkei sehr genau”. Als einer von wenigen Textilproduzenten ist Boss mit einer eigenen Fertigung in der Türkei vertreten und beschäftigt dort rund 4 000 Mitarbeiter. Die Bewohner Izmirs und der Ägäis-Küste haben bei dem Referendum überwiegend gegen das Präsidialsystem gestimmt.