Die Krise verleitet zu "Ad-hoc-Prosa"
Die Coronakrise spiegelt sich in einer Welle von Ad-hoc-Mitteilungen, in denen die Unternehmen den Markt über kursbeeinflussende Auswirkungen der Pandemie informieren. Nach einer Analyse der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer haben die Emittenten rasch einen Marktstandard herausgebildet, welche Informationen veröffentlicht werden. Von Sabine Wadewitz, FrankfurtBei aller Verunsicherung über die Auswirkungen der Coronakrise, die Informationsanforderungen im Kapitalmarkt müssen auch in schwierigen Zeiten erfüllt werden. Investoren wollen zeitnah wissen, ob die Prognose hinfällig ist oder Abschreibungen drohen. Nach einer Studie der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer hat sich nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie in der Ad-hoc-Publizität rasch ein Marktstandard für die Entscheidung herausgebildet, welche Informationen veröffentlicht werden.Die Unternehmen waren offensichtlich bemüht, auf der sicheren Seite zu bleiben und für Transparenz zu sorgen. In den von der Kanzlei untersuchten acht Wochen von Mitte Februar bis Mitte April sind 245 Ad-hoc-Mitteilungen veröffentlicht worden, darunter 20 von Unternehmen aus dem Dax und 30 aus dem MDax.Anfangs gab es noch keine Orientierungshilfe der Marktaufsichtsbehörde BaFin, welche Ereignisse als kursrelevant einzustufen sind. “Die Unternehmen haben zunächst eigenständig eine neue Informationspraxis herausgebildet”, erläutert Freshfields-Partner und Studienleiter Christoph Seibt. So haben Konzerne ihre Prognosen kassiert, ohne gleichzeitig eine neue Vorhersage in den Markt zu geben. Dieses Vorgehen habe die BaFin inzwischen im Dialog mit den Emittenten auch gebilligt.Gelockert hat die BaFin mit Blick auf die Covid-19-Pandemie auch die Vorgabe, wonach Unternehmen zur Ad-hoc-Mitteilung verpflichtet sind, wenn die absehbare Ertragsentwicklung von den einschlägigen Analystenschätzungen abweicht. Ausnahmsweise hält es die BaFin nun im Einzelfall für vertretbar, eine bestehende Consensus-Schätzung um alte, die aktuelle Covid-19-Situation nicht berücksichtigende Erwartungen zu bereinigen – etwa durch Heranziehen aktueller Presseberichte. Nur wer in der Ertragsentwicklung von dieser bereinigten Durchschnittsgröße abweicht, muss es als Insiderinformation ad hoc in den Markt geben. Dabei können die Unternehmen die Bereinigung selbst vornehmen, erklärt Seibt. Auch hier hätten die Emittenten schon vor dem Plazet der BaFin damit begonnen, dies so zu handhaben.Die Emittenten seien dem Credo “Viel hilft viel” gefolgt und informierten relativ einheitlich über Corona-Auswirkungen: Prognoserücknahmen, Verschiebung von Hauptversammlungen, Änderung des Dividendenvorschlags, Aussetzung von Aktienrückkäufen, Produktionseinschränkungen, Kurzarbeit oder Inanspruchnahmen staatlicher Hilfsmaßnahmen wie KfW-Kredite.Auch in der Formulierung der Ad-hoc-Meldungen hat sich zügig ein Standard herausgebildet. Hier seien die Dax-Unternehmen Vorreiter gewesen. “Die Mitteilungen klingen nun, als kämen sie aus einem Musterkasten”, sagt Seibt. Dabei seien inhaltlich auch Punkte aufgenommen, die für sich genommen keine Insiderinformationen sind. Nachdenken über Kurzarbeit oder das Risiko von Lieferschwierigkeiten waren in der Hochphase des Lockdowns keine Themen, die den Markt hätten überraschen können. Das solche Dinge ad hoc mitgeteilt wurden, dürfte die große Unsicherheit in den Unternehmen über die Auswirkungen der Pandemie in der Kapitalmarktkommunikation spiegeln. Seibt charakterisiert es als neue “Ad-hoc-Prosa”, dass der Markt sogar darüber informiert wurde, dass sich Unternehmen um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sorgen. Die Ad-hoc-Mitteilungen seien in der Krise inhaltlich breiter angelegt worden als in normalen Zeiten.Aus Sicht von Seibt haben sich die Unternehmen mit dieser Informationspraxis richtig verhalten. “Sie haben vernünftig reagiert”, lobt der Anwalt. Denn im Ergebnis habe die BaFin es goutiert, wie sich in den Antworten der Marktaufsicht auf häufig gestellte Fragen (FAQ) im Zusammenhang mit Covid-19 ablesen lässt. “Die BaFin hat einen realistischen Blick, sie hat der Praxis zugehört und angesichts der Pandemie Ausnahmen zugelassen”, fasst es Seibt zusammen. Ende Mai hat die Behörde klargestellt, dass die Ausnahmen trotz der Lockerungen erstmal auf unbestimmte Zeit weiter gelten. Die Uhr ticktInteressant wird aus Sicht von Seibt, wie die Unternehmen ihre neuen Prognosen in den Markt bringen werden. Die BaFin gibt vor, dass die neue Vorhersage in der Regel mit einer Ad-hoc-Meldung veröffentlicht werden sollte. Ausnahmen davon seien zulässig, wenn die neue Prognose die Markterwartung trifft, also dort nicht für Überraschung sorgt. Der Anwalt geht davon aus, “dass die Mehrzahl der Unternehmen unabhängig von der Markterwartung sicherheitshalber die neue Prognose per Ad-hoc-Meldung veröffentlicht”.Es könnte nach Einschätzung von Seibt bis in den Herbst hinein dauern, dass Unternehmen ausreichend Durchblick erlangen, um die Ertragsentwicklung im Geschäftsjahr vorhersagen zu können. Einige Konzerne könnten die Prognose erst mit Bekanntgabe der Zahlen für das dritte Quartal neu fassen, andere werden schon die Halbjahreszahlen zum Anlass nehmen – insbesondere wenn Covenant-Brüche in Finanzierungsverträgen drohen oder Restrukturierungspläne zu verhandeln sind.