Die letzte Schwachstelle in der Aufstellung der Siemens-Produkte
Von Michael Flämig, MünchenDer Siemens-Konzern hat in den vergangenen Jahren seine Produktangebote strategisch auf Vordermann gebracht. Nicht konkurrenzfähige Sparten wurden mit Wettbewerbern zusammengelegt, verkauft oder auf eigene Faust saniert. Eine letzte gravierende Schwachstelle in der Produkt-Struktur allerdings harrt einer Stärkung: die großen Gasturbinen.Der Siegeszug der erneuerbaren Energien und die Dezentralisierung der Stromproduktion drücken die Nachfrage für diese Turbinen – und zwar voraussichtlich dauerhaft. Die Folge ist ein Preiskampf. Wenn die Münchner am 9. November zur Bilanzvorlage den Blick auf das angelaufene Geschäftsjahr 2017/2018 (30. September) richten, sind Lösungen gefragt. Schließlich ist die Division Power and Gas ein Eckpfeiler des Konzerns, indem sie ein Fünftel des Umsatzes (16 Mrd. Euro) und 40 % des Auftragsbestand (46 Mrd. Euro) liefert sowie rund 30 000 Menschen beschäftigt (inklusive Dresser-Rand, ohne Service-Geschäft).Am Kapitalmarkt werden bereits M & A-Modelle herumgereicht. Ein Joint Venture mit einem Konkurrenten wie Mitsubishi Heavy Industries sei ein mögliches Ergebnis, meinen beispielsweise die Analysten von Berenberg. Kein Wunder, schließlich hat die Siemens-Konkurrenz teils diesen Weg gewählt. General Electric (GE) hat sich im Jahr 2015 die Alstom-Energiesparte einverleibt, zuvor hatten Hitachi und Mitsubishi ihr Kraftwerksgeschäft fusioniert. Verharren in der TalsohleDoch das Leben ist selbst für Siemens kein Wunschkonzert, mag der Konzern auch zuletzt beispielsweise mit Windrädern oder Bahntechnik gezeigt haben, dass die Musik auch in Gemeinschaftsunternehmen spielen kann. So bleibt anstelle eines Joint Ventures nur der harte Weg der Stellenstreichungen. Siemens-Finanzvorstand Ralf Thomas rechnete den Analysten bereits im August vor, dass das Siemens-Kerngeschäft im Geschäftsjahr 2016/2017 möglicherweise Gesamtkosten für Personalrestrukturierung von 350 Mill. Euro tragen muss – obwohl nach drei Quartalen erst 200 Mill. Euro zu Buche standen. Die Differenz dürfte großteils auf die Energiesparten entfallen. Im Zuge früherer Abbauprogramme wurden schon 1 100 Stellen bei Power and Gas gestrichen.Warum so harte Schnitte? Die bisherige Annahme, dass ein Wechsel von Boom und Baisse den Gasturbinenmarkt kennzeichnet, ist nach Meinung der Auguren außer Kraft gesetzt. Stattdessen wird mit dem Verharren in der Talsohle gerechnet. Denn die erneuerbaren Energien ziehen das Geld an sich. Zwar soll die erzeugte Strommenge weltweit bis zum Jahr 2040 um 75 % steigen, doch werden Schätzungen zufolge 72 % der Investitionen auf die Erneuerbaren entfallen. Schließlich wird es immer günstiger, Strom mit Fotovoltaik oder Windrädern zu erzeugen. Die Schlussfolgerung von Thomas: “Das Geschäft wird durch Marktgegebenheiten herausfordert, die struktureller Natur sind – daher werden sie nicht verschwinden.” InnovationspauseDass der Markt zusammenbricht, zeigte sich schon in den vergangenen Jahren. Während 2014 noch rund 200 Turbinen und 2016 rund 180 Stück bestellt wurden, werden im laufenden Jahr nur 130 Orders für Turbinen als realistisch eingestuft. Der scheidende GE-Finanzvorstand Jeff Bornstein schätzt den Weltmarkt 2017 auf 40 Gigawatt nach mehr als 60 Gigawatt 2014. “Er dürfte im nächsten Jahr weiter schrumpfen”, lautet seine Prognose.Hinzu kommt: Unter dem früheren Energievorstand Michael Süß hatte Siemens zu wenig Geld in die Fortentwicklung der Turbinen gesteckt, so dass GE trotz einer späteren Siemens-Innovationsoffensive davonziehen konnte. Man habe mehr als 50 % Marktanteil, jubelte der damalige GE-Chef Jeff Immelt im Juli. Doch auch er sprach von Überkapazitäten. Einen Nachholbedarf für Investitionen ortete er expressis verbis nur in Saudi-Arabien, das wegen des niedrigen Ölpreises in den vergangenen Jahren wenig Geld für Turbinen ausgegeben hatte. Ob China aus Gründen des Umweltschutzes ebenfalls investieren wird, versieht er bereits mit einem Fragezeichen. Klar ist: In Deutschland haben die erneuerbaren Energien Vorrang, und im übrigen Europa herrscht Unsicherheit über die künftigen Regeln auf dem Strommarkt.Die Siemens-Zahlen spiegeln den Markteinbruch. Zwar füllte eine Sonderkonjunktur durch einen Multi-Milliarden-Auftrag über 24 Turbinen aus Ägypten im Jahr 2015/2016 die Bücher, doch seit zwölf Monaten geht es steil bergab (siehe Grafik). Jedes Quartal beträgt das Orderminus rund 40 % – da hilft es auch nichts, dass die Analysten von J.P. Morgan mit einer Stabilisierung im vierten Quartal rechnen. Die Unterauslastung der Kapazitäten an den Standorten Berlin und Charlotte (USA) werde die Marge erneut drücken, so trotzdem ihre Prognose.Thomas warnte vor zwei Monaten, die Division werde im Geschäftsjahr 2016/2017 leicht unter ihre Zielmarge von 11 % bis 15 % rutschen. Nach neun Monaten stehen 10,9 % zu Buche. Mehr noch: Der Finanzvorstand bereitete die Analysten darauf vor, dass die Zielmarge gesenkt werden könnte. Schließlich solle sie die erreichbare Rendite der Branche widerspiegeln.