"Die Opec muss einfach reformiert werden"
Es gibt in Russland niemanden, der länger im Ölgeschäft tätig ist als Wagit Alekperow. Schon zu Sowjetzeiten trug er als stellvertretender Ölminister große Verantwortung für dieses Geschäft. Später gründete er den Ölkonzern Lukoil, Russlands zweitgrößten Ölkonzern, den er nach wie vor leitet. Im Interview mit der Börsen-Zeitung spricht Alekperow über die Fehleinschätzungen auf dem Ölmarkt, den Bedeutungsverlust der Opec und den Gehalt von Verschwörungstheorien.- Herr Alekperow, versteh noch einer die Welt des Öls! Da trafen sich vor gut zwei Wochen Vertreter von 16 Ölstaaten in Doha, um sich auf eine Deckelung der Förderung zu einigen und so den Preis zu stabilisieren. Dann scheitert das Treffen, und der Preis steigt in der Folge von 43 bis auf 48 Dollar. Hätte man auf das Treffen besser gleich verzichten können?Ich habe jüngst auf einem Öl- und Gasforum in Moskau gesagt, dass niemand einen Durchbruch in Doha erwartet hatte. Aber an Beratungen auf Ministerebene führt trotzdem kein Weg vorbei.- Gut, aber um den Preis zu treiben, reicht offenbar die Vorfreude auf so ein Treffen, wie man seit Februar gesehen hat.Wir zielen nicht auf spekulative Preise ab. Ich denke, dass eine politische Regulierung den Ölpreis nur sehr kurzfristig bewegen kann.- Viele würden gerne verstehen, was da auf dem Ölmarkt vor sich geht. Welche Kriterien werden unterschätzt? Worauf achtet man zu wenig?Wir sehen die Tiefe des Eisbergs nicht. Wie etwa konnte es so weit kommen, dass der Preis seit 2014 von 110 auf 30 Dollar je Barrel gesunken ist?- Allgemeiner Einschätzung nach wegen der Überproduktion.Aber vorher hat das kein einziger Analyst in seiner Prognose gehabt. Im Gegenteil: Die Schätzungen sagten 140 Dollar voraus.- Also sind die Analysten das Problem?Nein. Das Problem ist, dass wir alle heute jene Markttendenzen, die es im Bereich des Energiekonsums gibt, ziemlich schlecht analysieren und erahnen.- Welche Faktoren soll man denn mehr berücksichtigen?Dass sich heute neue Regionen der Öl- und Gasproduktion herausbilden.- Sie meinen die USA?Die USA, Kanada, Brasilien. Diese Länder beeinflussen heute den Markt. Der Irak wird wieder zu einem großen Spieler. Und wenn wir uns das Regulierungskartell Opec ansehen, so muss man konstatieren, dass es vom Markt verschwunden ist. Seit 2008 erfüllt es die Regulierungsfunktion nicht mehr.- Weil die Opec nicht kann, oder weil sie nicht will?Weil sie nicht kann. Zu stark sind die politischen Widersprüche zwischen den Mitgliedern. Zu unterschiedlich ihre Interessen.- Einer Meinung waren die Mitglieder auch früher nicht.Wenn es früher auch nur eine einzige Explosion auf dem Gebiet der arabischen Welt gegeben hätte, wäre der Ölpreis in astronomische Höhen geschnellt. Heute aber haben sie Probleme im Jemen, in Syrien, in Libyen, im Irak. Und der Ölpreis ist dennoch auf tiefem Niveau. Die neuen Produktionsregionen haben einfach einen größeren Einfluss auf den Markt. Und die Spekulanten auch.- Soll man sich von der Opec verabschieden?Nein. Aber sie muss einfach reformiert werden, so wie dies alle öffentlichen Organisationen in gewissen Abständen tun müssen. Und sie muss neue Hebel ausarbeiten, um Aktionen untereinander koordinieren zu können.- Wenn die Opec in ihrer jetzigen Form sinnlos ist, sollten dann neue Mitglieder aufgenommen werden?Wir haben selbst zu Sowjetzeiten nicht an ihr teilgenommen. Damals gab es den so genannten Rat der unabhängigen Ölproduzenten, zu dem Norwegen, die UdSSR und Kanada gehörten. Als stellvertretender Ölminister war ich damals Vertreter der UdSSR. Aber die Vereinigung hatte beratende Funktion.- Braucht es eine neue Opec?Nein, ich denke, dass es innerhalb der bestehenden Organisation eine Reform braucht.- Bauen Sie künftig auf die Opec?Nein. Wir denken, dass sie in ihrer heutigen Form ihre Möglichkeiten als Regulator ausgeschöpft hat. Wenn es zu einer Reform kommt, so wird die Opec nicht direkt auf den Markt Einfluss nehmen, sondern über jene Mechanismen, die diesen Einfluss begünstigen. Es geht um eine genaue Prognose der Produktionsmenge, eine genaue Analyse des Verbrauchermarktes. Es müssen jene alternativen Energiequellen berücksichtigt werden, die heute immer mehr auftauchen; auch die Atomkraftwerke. Schon beobachten wir, dass die Elektroautos die Parameter der gewöhnlichen Autos erreichen.- Wo also müssen wir genauer hinsehen, um die Vorgänge besser verstehen zu können?Auf die Marktverhältnisse. Auf jene Tendenzen, die sich in der ganzen Welt abzeichnen. Auf jene Investitionsvolumina, die in den Sektor fließen. Ich denke, dass der Ölpreis gegen Jahresende bei 50 Dollar pro Barrel liegen wird. Warum? Im Vorjahr wurden 300 Mrd. Dollar zu wenig investiert, im ersten Quartal dieses Jahres 50 Mrd. Dollar zu wenig. Es wurden keine zusätzlichen Bohrlöcher geschaffen.- So gesehen ist das geplante Opec-Treffen im Juni schon gar nicht mehr nötig, oder?Im Gegenteil, gerade dieses Treffen kann den Anstoß zur Reform der Opec geben. Ich denke, dass das im Juni beginnt.- Es kursieren im Groben zwei Theorien: Saudi-Arabien hat vor zwei Jahren den Ölhahn aufgedreht, um entweder Marktanteile gegen die billige US-Konkurrenz zu verteidigen oder um in Abstimmung mit den USA Russland in die Knie zu zwingen. Was denken Sie?Dass heute alle arabischen Staaten angesichts der Situation, in der sich die Region befindet, Geld brauchen. Und zwar zur Aufrechterhaltung der Sicherheit. Um in so einer Situation zu Geld zu kommen, muss man mehr Öl fördern. Andererseits aber kann ein Land allein nicht für alle die Verantwortung tragen. Ich möchte das Schicksal von Saudi-Arabien nicht hervorstreichen. Ich rufe eher dazu auf, dass wir alle gemeinsam das Problem lösen.- Eine Verschwörung gegen Russland gibt es also nicht?Ich denke nicht. Ich sehe eine solche nicht.- In Russland gehen die bislang tragenden Lagerstätten zur Neige und die Investitionen ölpreisbedingt zurück. Eine Ausweitung der Förderung ist also ausgeschlossen. Müssen wir uns auf Produktionskürzungen einstellen?Wir sprechen heute auch gar nicht von einer Ausweitung der Produktion, sondern von einer Stabilisierung. In nächster Zeit werden sich die historischen Investitionen auswirken, so dass die gesamtrussische Förderung 2016 plus/minus 1 % im Vergleich zum vergangenen Jahr betragen wird. Für 2017 prognostizieren wir einen leichten Rückgang. Und für die Zeit danach eine Stabilisierung bei 525 bis 530 Mill. Tonnen Jahresförderung. Zum Vergleich: 2015 waren es 534 Mill. Tonnen. Alles wird von den Investitionsmöglichkeiten – also vom Steuersystem und der Höhe des Ölpreises – abhängen. Es wird unsere Aufgabe in den nächsten zwei Jahren sein, Regierung und Parlament davon zu überzeugen, dass sie Gesetze erlassen, die die Arbeit in den alten Lagerstätten stimulieren.- Wo liegt für Lukoil der kritische Ölpreis, ab dem die Förderung unrentabel wird?Wie alle Unternehmen können wir auf Kosten unseres Investitionsprogramms sparen. Würden wir alle Investitionsprojekte kürzen, würde der kritische Preis bei 12 Dollar je Barrel liegen.- Ist Lukoil etwa in einer besseren Lage als beispielsweise der staatliche Branchenprimus Rosneft?Lukoil hat frühzeitig alle großen Investitionen getätigt, die in den kommenden Jahren Einkünfte bringen werden. Auch ist Lukoil bei seinen ausländischen Projekten mehr diversifiziert. Die Modernisierung der Raffinerien, in die wir in den vergangenen zehn Jahren 12 Mrd. Dollar investiert haben, ist abgeschlossen. Wir haben auch rechtzeitig die Förderung aus dem Feld West-Qurna 2 im Irak gestartet. Das hilft uns, unsere Finanzsituation zu stabilisieren.- Wie sehr spürt der russische Ölsektor die technologischen Sanktionen bei den Anlagen für schwer zugängliche Lagerstätten?Im gegenwärtigen Stadium bremst das natürlich die künftige Entwicklung.- Also ist die Situation kritisch?Ja. Aber die gegenwärtigen Aktivitäten sind davon nicht betroffen. Wir selbst waren durch die Sanktionen gezwungen, aus einem Gemeinschaftsunternehmen mit Total auszusteigen. Das heißt, wir bekommen für eine gewisse Zeit nicht ausreichend Investitionen und Technologie für die Arbeit an dieser schwierigen Lagerstätte.- In Russland ist auch zu hören, dass man auf die westliche Technik überhaupt verzichten könnte und man aus der Not heraus einen eigenen technologischen Sprung hinlegen könne. Warum hat man es dann bisher nicht getan?Die Welt ist klein. Innerhalb von 25 Jahren hat sich unser Land sehr stark in die Weltgemeinschaft integriert.- Binnen dreier Jahre kann man technologisch also nicht aufholen?Auf der Welt besteht Arbeitsteilung. Die Sowjetunion hatte ja alles selbst gemacht. Aber das war dann von niedriger Qualität. Und in der Regel herrschte an allem Mangel. Heute alles selbst zu machen ist nicht zweckmäßig. Es braucht Integration, man muss die Kooperation mit ausländischen Produzenten fortsetzen. Und man muss sich nach dem Besten umsehen, was es in der Welt gibt. Und dann muss man die Verlagerung der Produktion dieser Anlagen auf russisches Gebiet stimulieren.- Ist der Versuch, sich statt aus dem Westen alles aus China zu holen, nicht eine Illusion? Ein westlicher Produzent sagte mir über die chinesischen Produkte für die Ölfeldausrüstung, sie würden gleich aussehen, aber sich wie alkoholfreies Bier zu wirklichem Bier verhalten.Es lässt sich nicht immer alles ersetzen.- Wie spürt denn Lukoil selbst die Sanktionen?Es mag paradox erscheinen, aber das Rating von Lukoil ist höher als das meines Landes. Das hat es meines Wissens noch nie gegeben.- Aber selbst jenseits der Sanktionen gibt es das Phänomen, dass Banken gegenüber Russland weitaus zurückhaltender geworden sind.Wir haben sehr gute Beziehungen zu den Banken. Daher konnten wir auch die Finanzierung von Schah Denis, einer aserischen Lagerstätte, durch die Europäische Investitionsbank mit sehr guten Konditionen an Land ziehen. Und zwar ohne Garantie des Mutterkonzerns.- Gut, das ist ein Projekt außerhalb Russlands. Aber in Russland selbst?Hier fühlen wir uns durch die Rubel-Abwertung in einer sehr komfortablen Lage. Etwa 70 % unserer Einnahmen sind Devisen. Daher haben wir um keine große Fremdfinanzierungen ersucht. Aber wir führen Verhandlungen mit den Banken. Ich kann sagen, dass wir uns für das zu privatisierende russische Ölunternehmen Bashneft interessieren. Und drei ausländische Großbanken sind zur Finanzierung bereit.- Was muss man bei den jetzt beginnenden neuen Privatisierungen vermeiden, damit sich nicht Fehler der Privatisierungen in den 1990er Jahren wiederholen?Man kann da heute keine Fehler machen. Auch in den 1990er Jahren wurden keine gemacht. Hätte es damals keine Privatisierungen gegeben, wäre der Ölsektor heute in einem schlimmen Zustand. Wir haben die Förderung praktisch auf mehr als das Zweieinhalbfache gesteigert. Wir hatten niemals Probleme mit Absatzmärkten – weil es Konkurrenz gab. Die Privatisierung der 1990er Jahre gab dem Land die Möglichkeit zu überleben.- Welchen Effekt hatten dann die Renationalisierungen zu Beginn der Putin-Ära?Ich war immer überzeugt davon, dass privates Eigentum effizienter arbeitet als staatliches. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Privatbesitzer auf viele Jahre voraus denkt. Er hängt nicht von der heutigen Konjunktur ab. Er kalkuliert damit, dass der Boden, den er heute pflügt, auch von seinem Sohn, Enkel und Urenkel gepflügt wird. Deshalb hütet er den Boden und kümmert sich um ihn.- Ist im russischen Ölsektor zu viel Staat?Zu viel Staat ist nie gut. Natürlich habe ich die Handlungen, die gesetzt wurden, nicht gebilligt. Denn zu große Unternehmen wurden staatlich und begannen dann, Druck auf die anderen auszuüben. Ich habe immer erwartet, dass das alles ja doch früher oder später privatisiert wird. Der Prozess wird unausweichlich eintreten. Der Staat wird sein Eigentum verkaufen, denn er denkt wie ich.- Im Ölsektor hat in den 1990er Jahren eine Aufsplittung in einzelne Unternehmen stattgefunden. Im Gassektor nicht. Wird die Zeit kommen, da auch das Monopol von Gazprom zu Ende geht?Davon bin ich überzeugt. Aber man muss die reine Gasindustrie von der Ölindustrie unterscheiden. Gas ist sehr starr an den Konsumenten gebunden, weil es nicht aufbewahrt werden kann. Unser Land – und ich selbst auch – hatte immer die Befürchtung, dass die Reformierung von Gazprom zum Chaos oder zu Lieferausfällen im Inland, aber auch im Export führen könnte. Wir konnten zu Beginn der 1990er Jahre keine Privatkonzerne so gut managen, dass sie auf dem Gassektor gearbeitet hätten. Deshalb haben sie sich auch nicht herausgebildet.- Aber prinzipiell ist das ja möglich.Stimmt. Möglich ist alles. Man könnte eine gemeinsame Pipelinegesellschaft hochziehen, einen Zugang dazu schaffen und Öl und Gas durchpumpen. Aber ich würde das sehr vorsichtig angehen. Denn jede Verletzung der Synchronizität zwischen Produzenten und Verbrauchern kann katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen.- Die in letzter Zeit begonnene sukzessive Beseitigung des von Gazprom gehaltenen Exportmonopols weist in die richtige Richtung?Ich denke, der Prozess hat schon begonnen und kann nicht mehr aufgehalten werden.- Zuletzt zogen Sie immer mehr Aktivitäten nach Wien und machten die österreichische Hauptstadt zum Zentrum all Ihrer Auslandsaktivitäten. Warum? Und wie geht es weiter?Wir koordinieren unsere Auslandstätigkeiten von Wien aus. Österreichs Gesetzgebung ist dafür förderlich. Die jetzt bestehende Struktur arbeitet sehr effizient.- Alle Fragen zu weiteren Auslandsakquisitionen laufen über Wien?Ja.- Mir scheint, dass Sie zuletzt widersprüchliche Aussagen bezüglich Zukäufen getätigt haben. Wird es Akquisitionen geben?Wir haben erklärt, dass wir im Downstream-Bereich, also in der Verarbeitung von Öl und dem Vertrieb, nicht mehr zukaufen. In dem Bereich haben wir alles reorganisiert und modernisiert.- Und in der Förderung?Hier wird es Zukäufe geben.—-Das Interview führte Eduard Steiner.