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Die US-Dominanz in der Listing-Landschaft wiegt weniger schwer als gedacht

Zwischen den US-Börsen und europäischen Marktplätzen heizt sich angeblich ein harter Kampf um Listings auf. Doch die Thematik ist nuancierter.

Die US-Dominanz in der Listing-Landschaft wiegt weniger schwer als gedacht

Gastbeitrag

Die US-Dominanz im Kampf um Listings wiegt weniger schwer als gedacht

Von Jos Dijsselhof, Zürich

Übereilte Schlüsse und eine duale Weltsicht liegen in der Natur des Menschen. Wir urteilen in schwarz und weiß, heiß und kalt, richtig und falsch. Manchmal ist es aber hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und sich einen breiteren Blickwinkel zu verschaffen, um zu einer nuancierten Analyse bestimmter Entwicklungen zu gelangen. An den Finanzmärkten gilt dies in Bezug auf das derzeit wohl am heißesten diskutierte Thema – das Umfeld für Börsengänge. Genauer gesagt stehen die US-Börsen im Fokus, die europäischen Marktplätzen die Listings vieler Unternehmen vor der Nase wegschnappen. Die hiesigen Börsenbetreiber ringen verzweifelt um eine Antwort darauf.

Viele IPOs im Heimatmarkt

Das ist zumindest die schwarz-weiße Sicht auf die Dinge, aber stellt dies wirklich eine faire Betrachtungsweise dar? Die Thematik ist in Wahrheit viel nuancierter. So sind zwischen 2017 und 2021 gemäß eines aktuellen IPO-Guides der Kanzlei Baker McKenzie 86% der Börsengänge im Heimatmarkt des jeweiligen Unternehmens erfolgt. Erfasst sind dabei Gesellschaften von großen Technologie-Playern bis hin zu kleinen Firmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien.

Von den 14% der Unternehmen, die außerhalb ihres Heimatmarkts an die Börse gehen, besitzen viele große internationale Geschäftsmodelle. Ein Listing in London, Paris, Zürich oder New York erscheint angesichts einer globalen Präsenz durchaus angemessen. Die Entscheidungen großer Firmen für einen Börsenplatz werden dabei immer Wellen schlagen, obwohl sie in der Regel nicht wirklich repräsentativ für das gesamte Listing-Umfeld sind. Unter Berücksichtigung dessen erscheinen die dramatischen Schlagzeilen um die Herausforderungen für europäische Börsen eher fragwürdig.

Es ist sicherlich richtig, dass der amerikanische Markt bei IPOs global großes Gewicht hat. Nach der ausstehenden Marktkapitalisierung kommen die USA auf mehr als die Hälfte des globalen Aktienmarktvolumens, zumindest gemessen am MSCI All Country World and Frontier Markets Index. Aber dominieren die Vereinigten Staaten die Listing-Landschaft zu jedem Zeitpunkt und in allen Sektoren? Nicht unbedingt. Berichte der Beratungsgesellschaft EY zeigen zwar, dass das laufende Jahr für die USA bisher ein gutes ist. Doch die gleichen Trend-Reports aus den Jahren 2022 und 2021 zeigen nicht die gleiche Dominanz bei den jährlichen Transaktionsflüssen auf.

Konkurrenz als Faktor

Einige Sektoren besitzen zudem eine natürliche Affinität zu bestimmten Märkten, die ihre Listing-Entscheidungen beeinflussen. In den Prozess fließt eine Vielzahl an Faktoren an, zum Beispiel wo dem jeweiligen Unternehmen die attraktivste und nachhaltigste Bewertung winkt oder in welchen Märkten es seine Sichtbarkeit erhöhen, neue Produkte lancieren und gewisse Kundengruppen erreichen will. Entscheidend ist auch, an welcher Börse die Konkurrenten gelistet sind und auf welche Bewertungen sie kommen. Mehrere Unternehmen aus der gleichen Branche können somit ein völlig neues Ökosystem für den jeweiligen Börsenplatz erschaffen.

Der US-Markt ist natürlich in Bezug auf alle Branchen stark, insbesondere aber im Tech-Sektor. Unternehmen wie Alphabet, Amazon und Microsoft blicken auf eine starke Kapitalmarkthistorie in den Vereinigten Staaten zurück. In London besitzen Finanzwerte sowie Energie- und Bergbaukonzerne einen starken Track Record. In Frankreich florieren die Luxusgüteranbieter. Deutschland ist unterdessen zentral für die Automobilbranche, Autobauer und Industriewerte dominieren den Dax noch immer. Der Schweizer Markt besitzt dagegen eine starke Bilanz in Bezug auf Healthcare-, Biotech- und Pharma-Werte sowie global präsente Marken wie Nestlé.

Regulatorische Veränderungen wie die jüngste Entscheidung Großbritanniens, die eigenen Listing-Regeln neu zu evaluieren, können die Attraktivität eines Markts für Börsengänge erhöhen. Doch es bestehen viele tiefere, fast schon kulturelle Gründe, aus denen bestimmte Börsenplätze einige Sektoren besonders stark anziehen bzw. für diese gut funktionieren. Die lokale Expertise für bestimmte Industrien ist ein Faktor, ebenso das Fachwissen der IPO-Berater, Banker, Anwälte und Buchhalter in der jeweiligen Region.

Sprache ist ebenfalls wichtig und kann zum Beispiel dazu führen, dass ein lateinamerikanisches Unternehmen ein Listing in Spanien anstrebt. Denn aufgrund der einfacheren Verständigung fällt es leichter, dort Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Der Appetit der lokalen Anlegerbasis macht gerade für Small und Mid Caps viel aus. Denn Investoren in bestimmten Ländern zeigen sich historisch bedingt vorsichtiger und zögern daher bei Anlagen in Growth-Unternehmen, die eine großflächige Funktionsfähigkeit ihres Geschäftsmodells erst noch beweisen müssen. Stattdessen wählen sie zum Beispiel lieber Versorger, die aus ihrer Sicht sicherer sind.

In Bezug auf die Schweiz zeigt eine aktuelle Analyse die starke Bilanz bei Listings von Healthcare-, Pharma- und Biotech-Werten aus Irland, Israel oder den USA. Daran wird deutlich, dass internationale Unternehmen die hohe Visibilität und eine gut kapitalisierte Investorenbasis in der Schweiz im Zusammenspiel mit einem etablierten Life-Sciences-Ökosystem als hilfreich erachten, um sich weiterzuentwickeln und Produktlinien auszubauen. Zugleich läuft der Handel am Schweizer Aktienmarkt ohne große Volatilitätsausschläge und mit hoher Liquidität. Bei genauerer Betrachtung ist dies eine attraktive Kombination, die sich auch in anderen Sektoren replizieren lässt.

Perspektive entscheidend

Soll sagen: Während der angebliche Kampf darum tobt, europäische Unternehmen zu einem Listing in ihrem Heimatmarkt statt auf den grüneren Wiesen jenseits des Atlantiks zu bewegen, ist die Perspektive entscheidend. Der geplante Börsengang des Chipdesigners Arm an der Wall Street ergibt aufgrund des starken Track Record von Tech-Listings an der Nasdaq vielleicht wirklich Sinn. Dagegen hat das Fintech CAB Payments zuletzt bewusst ein IPO im Vereinigten Königreich gewählt. Und es wäre nicht überraschend, wenn sich globale Biotech-Vorreiter künftig für ein Listing in Zürich statt in New York oder London entscheiden.

Jos Dijsselhof

CEO
der Six Group