Die versteckte Not im Pharmaland Schweiz
Die versteckte Not im Pharmaland Schweiz
Viele junge Forschungsfirmen kommen kaum mehr an frisches Geld heran – Selbst große Start-ups sind zu Notverkäufen gezwungen
„Wenn kein frisches Geld in die Kasse kommt, ist halt irgendwann nichts m ehr da, um die Rechnungen bezahlen zu können.“ Alexander Bausch, Chef und Gründer der kleinen pharmazeutischen Forschungsfirma Kinarus in Basel, hat gerade am eigenen Leib erfahren, wie lang und schmerzvoll ein Gang zum Konkursrichter sein kann. Vor wenigen Tagen ist der promovierte Apotheker am Ende seines unternehmerischen Weges angekommen. Die Bilanz ist bei Gericht deponiert; um die Verwertung der verbliebenen Aktiva kümmert sich nun ein Liquidator.
Kinarus ist einen stillen Tod gestorben. Wohl war das börsenkotierte Unternehmen an der Six Swiss Exchange für ein breiteres Publikum sichtbar. Aber die Firma blieb ein Kleinstbetrieb. Die Arbeit der weniger als zehn Mitarbeitenden hat einige private Aktionäre, Gläubiger und die Eidgenossenschaft zwar ein paar Millionen Franken gekostet, ohne dass die Forschungsziele auf dem Gebiet der Augenerkrankungen erreicht werden konnten, doch der entstandene Schaden ist zu gering, als dass er höhere Wellen hätte schlagen können.
Stilles Leiden
Länger als die Basler dreht die Genfer Forschungsfirma Obseva ein Rad von beachtlicher Größe. Auch Obseva droht auszubluten – unter den Augen des Schweizer Börsenpublikums. Die Firma hat seit ihrer Gründung 2012 fast 500 Mill. Dollar verbrannt. Die Erfolge in der Reproduktionsmedizin sind im erhofften Maß bis heute ausgeblieben. Es gibt kein Medikament auf dem Markt, das dem Unternehmen Umsatz und damit eine Zukunft garantieren könnte. Jüngst hat Obseva ihren Bericht über den Geschäftsverlauf im ersten Halbjahr veröffentlicht – es liest sich wie ein Orakel: „Das Unternehmen ist der Ansicht, dass seine derzeitigen Barmittel und Barmitteläquivalente nur bis ins vierte Quartal 2023 zur Deckung der betrieblichen Kosten reichen.“ Obseva warnt: „Es bestehen substanzielle Zweifel über die Fähigkeit der Firma, den Betrieb innerhalb der nächsten zwölf Monate aufrechtzuerhalten (…).“
Auch das Schicksal von Obseva wirft keine hohen Wellen mehr. Die Firma war Ende 2022 gezwungen, mehr als zwei Drittel ihrer Mitarbeitenden zu entlassen. Forschungsprojekte mit den größten Erfolgschancen wurden an Drittfirmen auslizenziert – aus schierer Geldnot und im Wissen darum, dass von möglichen Erfolgen, die sich später vielleicht einstellen, nur noch ein Bruchteil des Gewinns in die Kasse von Obseva fließen wird.
Die schwächsten Index-Performer
Das Schicksal von Kinarus und Obseva ist typisch. Viele pharmazeutische Forschungsunternehmen in der Schweiz leiden unter akutem Geldmangel. Von den 20 Aktien mit der schlechtesten Kursentwicklung an der Six Swiss Exchange in den vergangenen zwölf Monaten repräsentiert jede dritte einen kleinen Pharmaforscher. „Das Problem kommt nicht von ungefähr“, sagt Thomas Heimann, Analyst beim Life Sciences Investor HBM Partners in Zug. „Viele junge Biotechfirmen sind viel zu früh an die Börse gegangen, weil es dort relativ einfach sehr viel Geld abzuholen gab.“ Ein gutes Jahr nach dem Ende der Pandemie sind die staatlichen und privaten Geldschleusen wieder geschlossen worden. Wer in den goldenen Zeiten nichts zur Seite legen konnte, ist jetzt klamm.
Bange Momente erleben in diesen Tagen aber nicht nur Minifirmen. Selbst Idorsia, der Riese unter den Schweizer Pharma-Start-ups, ist in eine bedrohliche Abwärtsspirale geraten. Dem Gründer und CEO Jean-Paul Clozel und seiner Ehefrau und Forschungschefin Martine zerrinnt das Geld zwischen den Fingern. Rund 800 Mill. sfr jährlich verbrannte Idorsia, bis die Geschäftsführer im Sommer zu der schmerzlichen Einsicht gelangten, dass sich die Hoffnungen auf einen schnellen Markterfolg der in den USA schon im Sommer 2022 zum Vertrieb zugelassenen Schlaftablette Quviviq nicht erfüllen würden.
Verkauf des Asien-Geschäfts zur Liquiditätsbeschaffung
Per Ende Juni lagen gerade noch 33 Mill. sfr in der Kasse von Idorsia, was nach dem alten Ausgabenmuster nur noch für zwei Wochen gereicht hätte. Die Clozels sprangen mit einem privaten Überbrückungsdarlehen ein und nahmen eiligst den Verkauf des Asien-Geschäfts in Angriff. Der Verkauf gelang und verschaffte Idorsia etwas Luft. Doch obschon das Unternehmen im Juli 500 seiner 1.200 Mitarbeitenden entlassen hat, schreibt Finanzchef André Muller im Halbjahresbericht: „Der 400-Millionen-Franken-Deal (…) erlaubt es uns, die Verfügbarkeit von Barmitteln bis Anfang 2024 auszudehnen.“
Zur Existenzsicherung könnte Idorsia versuchen, die Vermarktungsrechte für die Schlafpille einem Konkurrenten zu verkaufen. Dafür gäbe es eine Vorauszahlung und eine Umsatzbeteiligung. Doch die Clozels wollten mehr. Sie träumten davon, ihren Erfolg mit Actelion zu wiederholen und ein großes, selbständiges europäisches Pharmaunternehmen zu schaffen. Aber selbst eine erfolgreiche Transaktion mit der Schlafpille wäre keine Überlebensgarantie, wenn dem Unternehmen nicht bald auch andere Erfolge gelingen, etwa mit der Markteinführung von Aprocitentan, einem Medikament gegen resistenten Bluthochdruck. Beobachter gehen indes davon aus, dass eine Verkaufszulassung dieses Medikaments in den USA nicht vor März 2024 zu erwarten ist.
Aktienkurs hat vier Fünftel des früheren Wertes verloren
Immer mehr Investoren geben Idorsia in diesem Wettlauf gegen die Zeit keine Chance mehr. Der Aktienkurs ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 80% auf rund 2,50 sfr eingebrochen. Der Marktwert der Firma beträgt noch etwa 500 Mill. sfr – weniger als die Hälfte dessen, was Analysten der Schlafpille Quviviq vor Jahresfrist noch als maximalen Jahresumsatz zugetraut hatten.
Auf großzügige Finanzierungshelfer kann Idorsia nicht hoffen. „Wir sind zurückhaltender geworden mit Neuinvestitionen, weil wir unser Pulver trocken halten müssen, um es bei Bedarf für bestehende Beteiligungen einsetzen zu können“, sagt HBM-Analyst Thomas Heimann stellvertretend für die Investmentbranche. Nach dem Ende des Börsenbooms dauere es nun deutlich länger, bis sich eine Investition via Börsengang monetarisieren lasse, erklärt er die Geldknappheit vieler Pharmafirmen, die wegen ihres geringen Alters noch keine Speckreserven ansetzen konnten. Pharma ist eine Schlüsselbranche der Schweizer Wirtschaft. Die Geldnot ist keine gute Nachricht für das Land.
Medikamentenforschung und die Produktion von Arzneimitteln sind zentrale Erfolgspositionen der Schweizer Volkswirtschaft. Aber ausgerechnet in diesem Sektor leiden junge Firmen derzeit besonders ausgeprägt an Geldknappheit. Das hat viel mit der gesunkenen Risikobereitschaft der Investoren zu tun.