„Diese Technologien sind nicht dazu entwickelt worden, Menschen zu ersetzen“
Frau Janik, die Hannover Messe 2023 neigt sich dem Ende. Welches Fazit ziehen Sie?
Wir haben gesehen, was es wirklich heißt, wenn sich die Fertigungsindustrie transformiert. Die physische Welt kommt jetzt mit der virtuellen Technologie zusammen, also mit 3D, mit Mixed Reality, aber auch mit künstlicher Intelligenz. Die Vorteile, die sich daraus ergeben, wie zum Beispiel beschleunigte Arbeitsprozesse oder höhere Qualität, waren hier live zu beobachten.
Bei Microsoft wollen Sie der Fertigungsindustrie auch mithilfe von generativer künstlicher Intelligenz zu mehr Produktivität verhelfen. Die Technologie gilt vor allem in der Wissensarbeit als revolutionär. Welches Potenzial sehen Sie für das verarbeitende Gewerbe?
Die Innovationssprünge, die wir jetzt auch als Konsumenten sehen, haben künstliche Intelligenz seit einigen Monaten als Thema in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Das liegt vor allem an den jüngsten Durchbrüchen bei der generativen künstlichen Intelligenz, die auf Knopfdruck eigene Inhalte wie Texte, Bilder oder Programmiercode erstellen kann. Ein bekanntes Beispiel dafür ist ChatGPT. Im industriellen Bereich wurde die KI-Technologie allerdings schon viel früher in den Blick genommen, auch wenn vielleicht nicht so intensiv in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wurde. Ab jetzt wird aber an sehr konkreten Beispielen sichtbar, wie sich die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine durch die Anreicherung mit verschiedensten intelligenten Technologien verändert.
Was wäre ein solcher konkreter Anwendungsfall für generative KI?
Durch die KI-Integration können Menschen jetzt beispielsweise in natürlicher Sprache mit Maschinen interagieren – und sie erledigen dann die Aufgaben, die man ihnen aufträgt. Gleichzeitig kann sich die Maschine auch selbst melden und den Menschen etwa über einen Defekt informieren, den sie mithilfe von künstlicher Intelligenz entdeckt hat, wodurch man noch schneller und genauer in den Prozess eingreifen kann. Solche Szenarien haben wir mit Firmen wie Siemens und Bosch auf der Messe gezeigt. Dabei kommt oft auch Augmented-Reality-Technologie mit einer AR-Brille zum Einsatz, wie man bei Kawasaki Heavy Industries an unserem Messestand sehen konnte. Sie hilft unter anderem, wenn sich ein Mitarbeiter im Werk mit der betroffenen Komponente nicht so gut auskennt. Er kann dann aus der Ferne von erfahrenen Kollegen unterstützt und angeleitet werden.

Inwiefern ist die momentan noch bestehende Fehleranfälligkeit von künstlicher Intelligenz und generativer KI auch in der Industrie ein Thema?
Industrieunternehmen trainieren ihre generativen KI-Lösungen mit eigenen kuratierten Daten, statt mit Informationen aus dem öffentlichen Internet, wie sie beispielsweise bei ChatGPT zum Einsatz kommen. Das steigert die Zuverlässigkeit enorm. Außerdem werden die sogenannten Prompts kontinuierlich verbessert, also die Kommandos, die den Systemen sagen, womit sie sich befassen sollen. Genau das ist die Kunst: diese Kommandos so zu gestalten, dass das Sprachmodell das macht, was es wirklich tun soll. Das ist ein kontinuierlicher Prozess und führt zu ganz neuen Berufsbildern. Man sieht jetzt schon erste Jobausschreibungen, wo „Prompt-Writer“ oder „Prompt-Ingenieure“ gesucht werden, die mit ihrem Domänenwissen in der Lage sind, solche Kommandos für die jeweiligen KI-Modelle zu erstellen.
Welche Fähigkeiten müssen solche KI-Prompter mitbringen?
Wir beobachten, dass die besten Prompt-Writer diejenigen sind, die verstehen, wie Codierung funktioniert, und die gleichzeitig ein tiefes Verständnis darüber haben, wie KI-Modelle und besonders Large-Language-Modelle funktionieren. Gleichzeitig brauchen die gesuchten Prompter eben das besagte Domänenwissen, also spezielle Expertise für ihren Produktionsbereich, in dem die KI zum Einsatz kommen soll. Wenn diese drei Fähigkeiten zusammenkommen, dann hat man wahrscheinlich den besten Prompt-Writer gefunden.
Auch mit den besten Prompt-Writern dürfte das Risiko von KI-geleiteten Fehlentscheidungen nicht zu 100% ausgeschlossen werden. Was passiert, wenn die Systeme doch einmal versagen, beispielsweise in der Qualitätskontrolle von Bauteilen in sicherheitskritischen Bereichen – und es dann zu einem Unfall kommt?
Solche Haftungsfragen sind immer einzeln zu klären, eine Pauschalantwort gibt es da leider nicht. Und wie schon gesagt: Für industrielle Anwendungen werden keine Consumer-Anwendungen wie ChatGPT genutzt. Unternehmen nutzen stattdessen Speziallösungen wie unseren Azure OpenAI Service, durch den sie vortrainierte KI-Modelle mit ihren eigenen Daten füttern können, um sie dann für ihre Zwecke zu nutzen. Hinzu kommt, dass KI-Systeme durch Feedback-Schleifen extrem schnell dazulernen. Generell sollten sich Unternehmen aber immer vorher überlegen, ob sie generative KI in kritischen Bereichen einsetzen wollen – und wie frei und kreativ sie dann agieren soll. In sicherheitsrelevanten Bereichen sollte man auf solche Fragen natürlich besonders achten.
Deutsche Firmen gelten im internationalen Vergleich nicht unbedingt als KI-Vorreiter. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hürden bei der Implementierung der neuen Technologie?
Es gibt eine Bitkom-Statistik, wonach heute tatsächlich nur 9% aller deutschen Unternehmen selbst KI einsetzen. Die Nutzung hängt dabei stark von den Branchen ab, beispielsweise kommt das maschinelle Lernen in der Finanzindustrie schon seit Längerem zum Einsatz. In anderen Industrien ist die Technologie dagegen noch nicht sehr verbreitet. Generell kann man aber sagen, dass das Interesse groß ist. Laut einer Firmenumfrage, die wir durchgeführt haben, glaubt ein Drittel des industriellen Entscheidungspersonals in mittleren und großen Unternehmen in Deutschland, dass generative KI den digitalen Wandel in ihren Unternehmen beschleunigen kann. Die vielleicht größte Hürde dürfte heutzutage wohl die teils noch fehlende Beurteilungsfähigkeit der Entscheider über den konkreten Nutzen von KI im eigenen Betrieb sein.
Wie können die Unternehmen – und gerade Mittelständler – hier mehr Expertise erlangen?
Wie bei allen Technologien gilt: Letztendlich muss man sich selbst damit beschäftigen, um zu erkennen, ob der Einsatz sinnvoll ist. Viele Unternehmen sind zumindest schon dabei, ihre Mitarbeiter für KI weiterzubilden. Denn das allgemeine Verständnis über die Möglichkeiten zur Abmilderung des Fachkräftemangels ist durchaus vorhanden. Gleichzeitig sind viele Technologien heute schon viel mehr demokratisiert, weil spezifisches Know-how, etwa in Sachen IT-Sicherheit oder Programmierung, für die Nutzung oftmals gar nicht mehr erforderlich ist. Die KI tut hier nur noch ihr Übriges: Befehle für Aufgaben können jetzt beispielsweise einfach in natürlicher Sprache übermittelt werden. Wir sehen auch, dass sich kleine Firmen oft mit ihren Industrie- und Mittelstandsverbänden abstimmen, wo für die KI-Nutzung einiges vorgedacht und an Standardisierung angeboten wird. Deshalb sind wir insgesamt guter Dinge, dass die Nutzung solcher neuartigen Technologien immer mehr Einzug halten wird – auch in kleinen Unternehmen.
Dass durch den Einsatz von KI und die „Demokratisierung“ digitaler Tools bestimmte Aufgaben für den Menschen obsolet werden, befeuert doch sicher die Ängste der Leute vor einem Jobverlust?
Diese Technologien sind nicht dazu entwickelt worden, Menschen zu ersetzen. Generative KI soll Menschen – sowohl in der Industrie als auch in anderen Berufsgruppen – vielmehr als Assistenzsystem dienen und vor allem anstrengende Routine-Tätigkeiten übernehmen, die wir alle nicht gerne tun. Typische Software-Entwickler haben heute beispielsweise viele Aufgaben, die kaum etwas mit dem Programmieren zu tun haben und mühsam sind, zum Beispiel das Erstellen der Dokumentation. Juristen müssen wiederum aufwendige Recherchen betreiben und zahlreiche Quellen prüfen. Genau solche Dinge soll die KI abnehmen. Ich glaube, dass es viele Wissensarbeiter gibt, die von solcher Unterstützung träumen.
Die Sorge vor einem Kontrollverlust über künstliche Intelligenz ist trotz allem derzeit groß. Elon Musk hat gerade erst einen temporären Entwicklungsstopp von KI-Systemen gefordert, die leistungsfähiger sind als GPT-4. Wie steht Microsoft dazu?
Die Bedenken können wir nachvollziehen. Wir haben uns schon immer für eine verantwortungsbewusste Nutzung von KI eingesetzt und deshalb sehr früh eigene KI-Prinzipien entwickelt, die alle Anwendungen von Microsoft sowie von unseren Kunden und Partnern erfüllen müssen: Fairness, Zuverlässigkeit, Sicherheit und Datenschutz, Inklusion, Transparenz und Rechenschaftspflicht. Wenn Unternehmen unseren Azure OpenAI Service nutzen möchten, dann können sie nicht einfach damit starten, sondern sie müssen sich zuerst mit ihren Anwendungsfällen bewerben und zeigen, dass sie im Einklang mit den genannten Prinzipien stehen. Man muss aber auch dazu sagen, dass Elon Musk jetzt ein eigenes KI-Start-up aufbauen will – und vielleicht auch wirtschaftliche Interessen dahinterstecken. Bestimmten Playern im Markt, die den Anschluss noch nicht gefunden haben, würde ein solches Verbot natürlich in die Hände spielen.
SERIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (2): MARIANNE JANIK im Interview
„Generative KI soll Menschen als Assistenzsystem dienen“
Die CEO von Microsoft Deutschland über den Wandel der Industrie durch künstliche Intelligenz und den richtigen Umgang mit der neuen Technologie
Generative künstliche Intelligenz hat nicht nur das Zeug dazu, den Dienstleistungssektor radikal zu verändern. Auch den industriellen Wandel dürfte die Technologie massiv beschleunigen. Die Sorgen vor einer Verdrängung menschlicher Arbeitskraft sind dabei unbegründet, sagt Marianne Janik, CEO von Microsoft Deutschland.
Das Interview führte Karolin Rothbart.
Marianne Janik, Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland