Dieselgate als Chance
Über dem Volkswagen-Konzern liegt seit dem Bekanntwerden des Abgasskandals ein großer Schatten. Die erste Risikovorsorge von 6,7 Mrd. Euro, die vor allem Kosten für den Rückruf von elf Millionen manipulierten Fahrzeugen in die Werkstätten abdecken soll, hat beim Zwölfmarkenkonzern zum ersten Quartalsverlust seit Beginn der IFRS-Bilanzierung im Jahr 2001 geführt. Diesen Ergebniseinbruch kann man als Zäsur betrachten. Die Jahre mit Rekordgewinnen in Serie sind bis auf Weiteres vorbei.Ob sich der erste Jahresverlust seit 1993 vermeiden lassen wird, ist in Anbetracht der Dimensionen dieser Krise fraglich. Es ist absehbar, dass auf den Autobauer weitere empfindliche Belastungen zukommen werden – wenn nicht in diesem Jahr, dann in den folgenden. Sammelklagen von Kunden und Investoren, eröffnete oder angekündigte strafrechtliche Untersuchungen staatlicher Behörden deuten darauf hin. Die Höhe der Gesamtkosten wird noch längere Zeit nicht genau zu beziffern sein. Ebenso wenig lassen sich die Folgen des weltweiten Reputationsschadens durch “Dieselgate” abschätzen. Wie viele Fahrzeuge wird Volkswagen deswegen in den kommenden Jahren weniger verkaufen, wie hoch werden die nicht erwirtschafteten Gewinne ausfallen? Bislang ist die Absatzentwicklung unauffällig. Das kann sich in den nächsten Quartalen aber noch ändern.Auf diese Unsicherheiten haben Investoren in den vergangenen fünf Wochen reagiert. Nach einem Kursrutsch von bis zu 47 % hat die VW-Aktie offenbar einen Boden gefunden. Viel wird nun vom weiteren Krisenmanagement abhängen, das auf einer robusten Liquiditätsausstattung des Konzerns aufbauen kann. Dabei muss Volkswagen eine Balance schaffen zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsorientierung. Die schnelle und gründliche Aufarbeitung des Skandals ist einerseits die Voraussetzung dafür, verloren gegangenes Kunden- und Anlegervertrauen zurückzugewinnen. Andererseits muss das Unternehmen, das von Neuanfang und Neuaufstellung spricht und dabei auf alte Konzerngesichter an der Spitze von Vorstand und Aufsichtsrat setzt, zeigen, dass sich die Ankündigungen eines Kulturwandels, eines strukturellen Umbaus und einer Strategiereform auch in Messbares umsetzen lassen.Die Krise kann bei Volkswagen wie ein Katalysator wirken und Veränderungen beschleunigen, die schon vor Bekanntwerden der Manipulationen für erforderlich gehalten wurden. Dafür braucht es jetzt Besonnenheit und Weitsicht von Vorstand und Aufsichtsrat.