Digitalisierung im Finanzbereich: Viel Potenzial, aber keine Strategie
Während bei den meisten Unternehmen im Mittelpunkt der Digitalisierungsaktivitäten die Geschäftsbereiche an der Schnittstelle zum Kunden stehen, findet der Finanzbereich bisher meist wenig Beachtung. Oftmals herrscht Unsicherheit darüber, welche Folgen die Digitalisierung für den Finanzbereich haben wird.Um zu ermitteln, wie stark die Digitalisierung den Finanzbereich von Unternehmen beeinflussen wird und welche Veränderungen zu erwarten sind, hat KPMG in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut Experten aus zahlreichen Großunternehmen interviewt und gemeinsam mit den Antworten aus einer Online-Umfrage von weiteren 114 Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgewertet. Die Hälfte davon sind Unternehmen mit weniger als 10 000 Mitarbeitern, aber auch Großunternehmen mit mehr als 50 000 Mitarbeitern bzw. über 10 Mrd. Euro Jahresumsatz haben an der Studie teilgenommen. Automatisierungsgrad steigtZunächst einmal sind sich die Befragten im Kern darüber einig, dass der Automatisierungsgrad zukünftig in allen Funktionsbereichen stark ansteigen wird. Die Führungsebene erwartet sogar eine fast vollständige Automatisierung der Bereiche Rechnungswesen/Buchhaltung, Datenmanagement, Controlling und Treasury/Cash Management. Dementsprechend gehen 63 % der Befragten davon aus, künftig mehr Freiraum für steuerungsrelevante und ermessensbehaftete Aufgaben zu haben.Trotz der hohen Relevanz einer Digitalisierungsstrategie – sowohl für das Unternehmen insgesamt als auch dezidiert für den Finanzbereich – überrascht die Angabe von 75 % der Befragten, dass für den Finanzbereich noch keine Digitalisierungsstrategie umgesetzt wird. Eine solche ist jedoch notwendig, um Digitalisierungsmaßnahmen zielgerichtet planen und koordiniert umsetzen zu können.Im Finanzbereich fällt zudem auf, dass im Gegensatz zum gesamten Unternehmen ein deutlich größerer Anteil der Mitarbeiter im Vergleich zu den Führungskräften davon ausgeht, dass für den Finanzbereich gar keine Digitalisierungsstrategie existiert, beziehungsweise ein großer Anteil der Mitarbeiter offenbar nichts von der bestehenden oder in Erarbeitung befindlichen Digitalisierungsstrategie weiß. Insofern sollte die Führungsebene einen deutlich stärkeren Fokus auf die Kommunikation mit den Mitarbeitern legen und diese frühzeitig mit einbeziehen.Möglicherweise liegt das Problem aber auch darin begründet, dass die Auswirkungen der Digitalisierung mit Arbeitsplatzverlusten verbunden sein könnten und deshalb diesbezüglich eher zurückhaltend kommuniziert wird. So erwarten etwa 43 % der Befragten aus dem Finanzbereich einen Rückgang bei den Neueinstellungen in ihrem Bereich als Folge der Digitalisierung.Eine der großen Herausforderungen für die Unternehmen wird sein, dass bei der Steuerung der digitalen Veränderungsprozesse verschiedenste (Alters-)Gruppen und vielfältige individuelle Befindlichkeiten berücksichtigt und ausbalanciert werden müssen, um die Organisation mit möglichst wenig Reibungsverlusten durch die Transformation zu führen. Dies bezieht sich insbesondere auch auf die übergreifende und eng verzahnte Zusammenarbeit zwischen Finanz- und IT-Bereich bzw. Chief Financial Officer (CFO) und Chief Information Officer (CIO). Interner BeraterNeben den klassischen Funktionen wie Controlling und Rechnungswesen wird nach Ansicht von mehr als der Hälfte der Befragten zukünftig auch das Datenmanagement für Finanzthemen direkt im Finanzbereich angesiedelt sein. So verschiebt sich der Schwerpunkt von der manuellen Datenaufbereitung hin zur inhaltlichen Analyse der aufbereiteten Daten, was den Finanzbereich stärker zum internen Berater und Unterstützer für Entscheidungen verschiedener Unternehmensbereiche (inklusive Unternehmensleitung) werden lässt. Über 70 % der Befragten sehen den Finanzbereich zukünftig in der Rolle des Business Partner, was zwar Chancen in Bezug auf seine Bedeutung innerhalb des Unternehmens bietet, aber auch eine deutliche Veränderung bzw. Weiterentwicklung erfordert.Dies führt zu einer weiteren Herausforderung, da die deutliche Zunahme an IT-nahen Aufgaben im Finanzbereich Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der beiden Bereiche haben wird. So erwarten 40 % der Befragten, dass der Finanzbereich zukünftig auch ohne die Zusammenarbeit mit dem IT-Bereich selbständig IT-Lösungen für Finanzprozesse entwickeln und implementieren wird.Durch die zunehmende Verschmelzung des Finanz- und IT-Bereichs sowie des höheren Stellenwerts von Datenmanagement und Datenanalyse müssen CFOs zukünftig verstärkt analytische Fähigkeiten, Projekt- und Kollaborationsmanagement-Skills sowie grundlegende IT-Kenntnisse mitbringen. So werden beispielsweise Einkaufs- und Verkaufscontrolling sowie das Investitionsmanagement zukünftig vom CFO verstärkt mitverantwortet, wie beispielsweise auch Empfehlungen für bzw. gegen Investitionen. Die Zeit läuftDes Weiteren werden IT-nahe Themen wie beispielsweise das Datenmanagement von über drei Vierteln aller Befragten dem zukünftigen Zuständigkeitsportfolio des CFO zugerechnet. Durch die insgesamt deutlich umfassendere Verantwortung des CFO kann es zu einem Spannungsfeld zwischen CFO und CIO kommen, da die Relevanz des CIO im Gegenzug verringert wird.Fazit: Die Umfrage macht deutlich, dass der Finanzbereich bei der Entwicklung und Umsetzung einer schlagkräftigen Digitalisierungsstrategie im Vergleich zum Gesamtunternehmen häufig noch hinterherhinkt. Viele Unternehmen können die enormen Potenziale der Digitalisierung für den Finanzbereich noch nicht vollumfänglich einschätzen, gleichzeitig unterschätzen sie deren transformatorische Wirkung erheblich. Zwar existieren bereits vereinzelte Initiativen im Finanzbereich, diese sind aber meist nicht in eine ganzheitliche Digitalisierungsstrategie eingebettet. Zudem zielen sie überwiegend nur auf eine weitere Effizienzsteigerung von Finanzprozessen ab.Der Finanzbereich muss deshalb jetzt mit der Entwicklung von Strategien und Maßnahmen beginnen. Wichtig ist auch, dass die Unternehmen eine umfassende HR-Strategie entwickeln, sowohl im Hinblick auf die Weiterbildung bestehender als auch die Gewinnung neuer Mitarbeiter, um den sich ändernden Anforderungsprofilen von Mitarbeitern im Finanzbereich Rechnung zu tragen.—-Andreas Reimann, Partner im Bereich Consulting der KPMG —-Mirko Hilsheimer, Partner im Bereich Consulting der KPMG