DVFA stellt Nachholbedarf in der Governance fest
Neue Regularien und virtuelle Hauptversammlungen stellen Konzerne vor neue Herausforderungen im Dialog mit ihren Aktionären. Der Investorenverband DVFA hat die Unternehmen aus Dax und MDax erneut einem Governance-Ranking unterzogen und stellt teilweise erhebliche Mängel fest.Von Sabine Wadewitz, FrankfurtDie Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex und der Wechsel zur virtuellen Hauptversammlung in Pandemiezeiten hat zu Verschiebungen in der Governance-Qualität in Dax und MDax geführt. Der Investorenverband DVFA hat zum fünften Mal die Corporate Governance großer deutscher Unternehmen unter die Lupe genommen und in einer Scorecard bewertet. Die im MDax geführten Gesellschaften sind zum zweiten Mal dem Ranking unterzogen worden. Erstmals wurde auch der SDax analysiert, hier steht die Auswertung noch aus. Mit der Scorecard will die DVFA den Dialog mit den Unternehmen über Corporate Governance intensivieren und versachlichen, “um eine strukturierte Diskussion führen zu können”, erklärt Michael Schmidt von Lloyd Fonds, Leiter der DVFA Kommission Governance & Stewardship. Schlusslicht VolkswagenIm Dax-Ranking 2020 hat sich Munich Re an die Spitze gesetzt. Der Rückversicherer war im vergangenen Jahr schon auf Platz 2 angesiedelt, bekommt diesmal jedoch mit erneut mehr als 90 % erreichten Punkten als einziger das Prädikat “hervorragend” angeheftet. 2019 hatten noch fünf weitere Firmen die Bestnote erhalten, sie werden nun mit “sehr gut” (mehr als 80 %) eingestuft – wie insgesamt 18 Unternehmen. Schlusslicht ist wie im Vorjahr Volkswagen, wobei der Automobilkonzern erneut mit “befriedigend” bewertet wird. 2019 war VW der einzige in dieser Kategorie, 2020 haben sich der Dax-Aufsteiger Delivery Hero und das Darmstädter Familienunternehmen Merck dazugesellt.Im MDax hat sich Aareal Bank von Platz 4 auf das Siegertreppchen hochgearbeitet. Der Erste im Ranking des Vorjahres, ProSiebenSat.1, ist diesmal auf Rang 3 abgerutscht. In dem Index ist kein Unternehmen mit dem Prädikat “hervorragend” ausgezeichnet worden, gerade mal elf Firmen sind mit “sehr gut” eingestuft. Anders als im Dax 30 sind die Kategorien “ausreichend” und “mangelhaft” (unter 50 %) noch gut gefüllt. Ganz unten im Ranking angesiedelt sind Nemetschek, CTS Eventim sowie das Schlusslicht Rational. Die DVFA sieht “deutlichen Nachholbedarf” bei einem Drittel der Dax-30-Unternehmen und bei über 87 % der MDax-Werte, da sie weniger als 80 % der möglichen Punkte erreichten. Deutsche Wohnen steigt aufDie größten Aufsteiger im Dax sind Deutsche Wohnen (Platz 22), die erst seit Juni 2020 im Index geführt wird, und Fresenius Medical Care (von Platz 28 auf 14). Der Immobilienkonzern punktet mit dem Kompetenzprofil des Aufsichtsrats, der Neubesetzung des Prüfungsausschusses und dem Vergütungsbericht, erläutert Alexander Juschus, der die Studie durchgeführt hat. Juschus ist Gründer und Geschäftsführender Partner des Aktionärsdienstleisters Governance & Values und Mitglied der DVFA Kommission Governance & Stewardship. Dem Dialysekonzern FMC kam im Ranking zugute, dass er zu den Ersten gehörte, die das nach den neuen Vorgaben überarbeitete Vergütungssystem in der Hauptversammlung zur Abstimmung stellten. Im MDax haben sich United Internet und Hella hochgearbeitet. Der Internetdiensteanbieter habe den Aufsichtsrat von drei auf sechs Köpfe vergrößert und in dem Gremium für Diversität gesorgt. Hella wurde die Rotation des Abschlussprüfers angerechnet. Juschus erinnert daran, dass beide Unternehmen von einem sehr niedrigen Niveau kommen – United Internet war 2019 auf Platz 51, Hella auf 53. “Verbesserungen taten not”, fasst es Juschus zusammen.Die meisten Stufen nach unten ging es im Dax für Continental (von 7 auf 21). Zum Punktabzug führt, dass im Vergütungsbericht kein Vergleich mit der Peergroup gezogen wird und die Besetzung des Prüfungsausschusses nicht die Unabhängigkeitsanforderungen der DVFA erfüllt. Auch für Fresenius ging es bergab (von 14 auf 25). Im Gesundheitskonzern fehlt aus Sicht der DVFA der Peergroup-Vergleich im Vergütungsbericht, die Darstellung der Erfolgsziele für den Vorstand sei unzureichend und der Prüfungsausschuss nicht ausreichend mit unabhängigen Mitgliedern besetzt.Im MDax ist Nemetschek der größte Verlierer (- 15 % auf Platz 53). Dem in der Rechtsform der SE geführten Anbieter von Software für die Baubranche werden Defizite in der Vorstandsvergütung und eine unterentwickelte Diversität angekreidet – so ist weder im dreiköpfigen Vorstand noch im vierköpfigen Aufsichtsrat eine Frau zu finden. Nach unten ging es im Ranking auch für Hannover Rück (- 7 % auf 33), wobei der Rückversicherer insgesamt noch mit “gut” eingestuft ist. Auch hier gibt es aus Sicht institutioneller Investoren Mängel im Vergütungssystem, zum Beispiel keine Begrenzung der aktienbasierten Entlohnung. Hannover Rück hat offensichtlich reagiert und weist in ihrer jüngsten Erklärung zum Governance-Kodex Anfang November darauf hin, dass die Vorstandsvergütung vom 1. Januar 2021 an für die gesamte Führungsriege dem Kodex entsprechen werde.Platzwechsel im Ranking sind in diesem Jahr auch darauf zurückzuführen, dass die DVFA die Scorecard um einige Fragen erweitert und Anpassungen im Governance-Kodex in ihrer Analyse berücksichtigt hat, erläutert Juschus. Positiv hat sich in dem Zusammenhang niedergeschlagen, dass einige Konzerne schon 2020 ihre Systeme zur Vorstandsvergütung an neue Regelungen angepasst und diese auf den Hauptversammlungen auch zur Abstimmung gestellt haben. Mehr TransparenzAuch die virtuelle Hauptversammlung führte zu Aufwertungen. Das neue Format war zwar aus der Not geboren, weil wegen der Pandemie keine Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden durften, doch es sorgte vielerorts für mehr Transparenz. So wurde die Generaldebatte in der Online-Hauptversammlung in voller Länge übertragen und die Stimmabgabe war auch noch während der Veranstaltung möglich. Auch hat manche Gesellschaft die Rede des Vorstandsvorsitzenden vorab veröffentlicht. Allerdings mussten die Investoren in der überwiegenden Zahl der Aktionärstreffen ihre Fragen vorher schriftlich einreichen und durften während der Veranstaltung nicht online nachhaken.Insgesamt hat die neue Hauptversammlungspraxis zu besseren Ergebnissen in der DVFA-Scorecard geführt, “allerdings kann daraus nicht geschlossen werden, dass sich die Rechte der Aktionäre dadurch verbessert haben”, stellt Juschus klar. In diesem Jahr habe man damit Punkte sammeln können, in der kommenden Saison werde sich zeigen, was “tatsächliche Verbesserungen sind”, mahnt er.Die Wissenschaftlerin Christina Bannier, Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen, hebt hervor, dass in den für die Scorecard herangezogenen Schwerpunkten “Aktionäre und Hauptversammlung” sowie “Aufsichtsrat” die maßgeblichen Treiber aller Effekte guter Governance sind. In der Methodik der Scorecard müsse im nächsten Durchgang noch stärker Sorge getragen werden, dass die Einbindung der Aktionäre in die Hauptversammlung gründlich gemessen werde. ESG-Experten gesuchtHendrik Schmidt, Governance-Experte von DWS Investment, gibt zu bedenken, dass der Begriff der virtuellen Hauptversammlung bislang im Wortsinn nicht die vorherrschende Praxis treffe. Die Online-Teilnahme sei darauf reduziert, dass der Aktionär sein Votum auf elektronischem Wege bis zum Beginn der Abstimmung abgeben könne. Abgesehen von sehr wenigen kleineren Unternehmen, die Fragen noch während der virtuellen Versammlung ermöglichten, gebe es somit bislang keine wirklich “virtuellen” Aktionärstreffen. Die echte Online-Teilnahme sollte aus Sicht der Investoren als zusätzliches Angebot zur Präsenzveranstaltung etabliert werden, um Anlegern einen besseren Zugang zu verschaffen. Was über die kommende Saison hinaus Bestand haben werde, ob Aktionärsrechte geschützt und gestärkt würden, müsse man abwarten, sagt Schmidt.Intensiv hinterfragt hat die DVFA für die Scorecard die Besetzung der Prüfungsausschüsse in Aufsichtsräten – ein Thema, das mit dem Betrugsfall Wirecard stärker ins Blickfeld gerückt ist. Hier besteht aus Sicht der DVFA großes Verbesserungspotenzial in Dax und MDax. Oft sei das Audit Committee oder dessen Vorsitzender nicht ausreichend unabhängig. Es fehle vielerorts zudem ein zweiter Financial Expert. Die Arbeitnehmervertreter in Prüfungsausschüssen bringen nach Einschätzung von Juschus oftmals “noch nicht mal ansatzweise finanzielle Expertise mit”. In Aufsichtsräten mangele es zudem insgesamt an ausgewiesenem Nachhaltigkeits-Know-how. Einen ESG-Experten in dem Gremium suche man meist vergebens. Dies sei vor allem in Unternehmen aus sensiblen Branchen wie Versorger, Luftfahrt oder Automobil nicht akzeptabel. Mehr Ehrgeiz erhofftHendrik Schmidt kritisiert, dass teilweise auch große Dax-Gesellschaften ihren Prüfungsausschuss mit gerade mal vier Personen besetzt haben, obwohl sie einen voll mitbestimmten Aufsichtsrat mit 20 Mitgliedern haben (vgl. BZ vom 17. November). Mancherorts lasse auch die Frequenz der Teilnahme von Kapitalvertretern in den Ausschusssitzungen zu wünschen übrig. “Der Prüfungsausschuss braucht eine breite Aufstellung und ein klares Aufgabenprofil”, fordert Schmidt.Die von der Deutschen Börse geplante Dax-Reform geht den Vertretern der DVFA mit Blick auf Governance nicht weit genug. “Wir hätten uns etwas mehr Ehrgeiz erhofft – auch im internationalen Vergleich”, sagt Bannier und ergänzt: “Andere Indizes sind hier weiter.” Hendrik Schmidt verweist auf die jüngste Initiative der Nasdaq, Unternehmen, die nicht mindestens eine Frau im Board of Directors haben, nicht mehr zum Listing zuzulassen. “Das sind globale Bewegungen, die man nicht komplett außen vor lassen kann.”Die DVFA habe der Deutschen Börse einen Katalog an Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Governance-Qualität entlang der Indizes vorgelegt. “Dass die Börse dieses Feedback aktiv eingeholt, aber kaum etwas davon verarbeitet hat, lässt einen mit einem Fragezeichen zurück”, meint Schmidt.