E-Rezept startet auf Papier
Von Annette Becker, Düsseldorf
Stefan Feltens, CEO des Versandhändlers Shop Apotheke, hat eine Anekdote auf Lager: Als Peter Weber und sein Sohn Stephan einen Online-Shop für ihre stationäre Apotheke in Köln gründeten, taten sie das auch in der Erwartung, dass das elektronische Rezept in absehbarer Zeit eingeführt werde. Das war 2001. 21 Jahre später ist es endlich so weit – am 1. September wird das E-Rezept in Deutschland eingeführt. Zwar nicht bundesweit und nicht verpflichtend, doch für Feltens „wird am 1. September ein wichtiger Meilenstein genommen“, wie er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung sagt.
Dass zunächst nur Westfalen-Lippe mit Pilotpraxen teilnimmt, sei bedauerlich, aber nicht zu ändern. Denn entscheidend sei auch, dass zum 1. September alle Apotheken in Deutschland verpflichtet sind, elektronische Rezepte zu empfangen. „Ich bin davon überzeugt, dass sich eine eigene Dynamik entwickeln wird“, gibt sich Feltens optimistisch. „Wir sehen täglich, dass das Einlösen und Abrechnen problemlos funktioniert.“
Die Hoffnung der Apotheker Weber stand zur Jahrtausendwende in engem Zusammenhang mit dem Lipobay-Skandal von Bayer. Der Leverkusener Konzern hatte den Cholesterinsenker 2001 vom Markt nehmen müssen, nachdem es bei Patienten zu schädlichen, teils tödlichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten gekommen war. Den Fall nahmen die Spitzenverbände des deutschen Gesundheitswesens zum Anlass, um die elektronische Gesundheitskarte auf den Weg zu bringen. 2004 trat ein Gesetz in Kraft, das die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für gesetzlich Versicherte bis 2006 vorsah. Daraus wurde bis heute nichts.
Stattdessen wurde 2015 das E-Health-Gesetz beschlossen, das weitere Konkretisierungen und Funktionen hinsichtlich der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte vorsah. Vom E-Rezept war damals keine Rede. Hierfür wurde die gesetzliche Grundlage erst im Sommer 2019 geschaffen. Geplant war die verpflichtende Einführung zum 1. Januar 2022. Doch auch dieser Zeitplan ließ sich nicht halten.
Am 21. Dezember 2021, also wenige Tage vor dem Start des E-Rezepts, teilte die halbstaatliche Gematik, die mit der Erstellung der Telematikinfrastruktur betraut ist, mit, die Testphase zu verlängern. „Wir haben eine Verzögerung, das freut uns nicht, denn wir standen am 1. Januar in den Startlöchern. Aber wir haben über 20 Jahre gewartet, da kommt es auf drei Monate mehr oder weniger auch nicht mehr an“, gibt sich Feltens gelassen.
Kalte Füße bekommen
Erst im Mai dieses Jahres verständigten sich die Gesellschafter der Gematik auf die stufenweise Einführung des E-Rezepts. Den Beginn sollten Pilotpraxen und -krankenhäuser in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe machen. In der vorigen Woche bekamen aber auch die Ärzte in Schleswig-Holstein kalte Füße. Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein sagte ihre Teilnahme am Pilot E-Rezept kurzerhand ab – aus datenschutzrechtlichen Erwägungen. Die Datenschutzbeauftragte in Schleswig-Holstein hatte nämlich haftungsrechtliche Fragen aufgeworfen. „Es ist für Ärzte natürlich ein rotes Tuch, wenn die Gefahr besteht, dass sie beim Ausstellen eines elektronischen Rezepts riskieren, für datenrechtliche Verstöße in Haftung genommen zu werden“, zeigt sich Feltens verständnisvoll.
Was war passiert? Ein Arzt hatte einer Patientin ein elektronisches Rezept, also einen QR-Code, per E-Mail zukommen lassen. Der Arzt als Leistungserbringer unterliegt aber der Datenschutzverordnung und macht sich mit dem Versand via E-Mail haftungspflichtig. „Damit ist aber nicht das E-Rezept gescheitert, sondern der Versand des unverschlüsselten E-Rezept-Tokens von der Arztpraxis an die Patientin“, verdeutlicht Feltens.
Als Übertragungswege verbleiben nun noch die zentrale E-Rezept-App der Gematik und der Papierausdruck des QR-Codes. „In der Anfangsphase wird der Papierausdruck überwiegen, weil nur wenige gesetzlich Versicherte die Möglichkeit haben, die E-Rezept-App der Gematik herunterzuladen. Dafür ist eine NFC-fähige elektronische Gesundheitskarte erforderlich“, erläutert Feltens und ergänzt, dass weniger als 10 % der gesetzlich Versicherten über eine solche Karte verfügen. „Der Austausch der Gesundheitskarten wird nach Angaben der Krankenkassen Jahre in Anspruch nehmen“, sagt Feltens.
Die Folge: Das E-Rezept nimmt seinen Anfang in Papierform. „Ich denke, das ist kein schlechter Ansatz, denn die Patientinnen und Patienten werden weiterhin ein Papier in der Hand haben. Das erhöht insbesondere in der Anfangsphase das Vertrauen in das elektronische Rezept“, begründet der Chef der Shop Apotheke. Dem Patienten stehe es schließlich frei, ob er den ausgedruckten QR-Code in eine Apotheke bringe oder abfotografiere und beispielsweise per Mail an eine Online-Apotheke schicke. Das nämlich ist erlaubt, unterliegt der Patient doch keiner Datenschutzverordnung.
Zukunftsvision
In der E-Rezept-App lädt der Arzt dagegen die Verschreibung in die Cloud. Der Patient loggt sich ein und kann die für ihn vorgesehenen Medikamente einsehen und an die Apotheke seiner Wahl versenden. „Das aber bleibt vorerst Zukunftsvision. Die Zeit wird zeigen, welcher der drei vorgeschriebenen Wege sich durchsetzen wird“, sagt Feltens.
Am 1. September geht es in Westfalen-Lippe mit 250 Arztpraxen los. „Das ist eine Vervielfachung dessen, was wir in der Testphase hatten“, sagt Feltens und verweist darauf, dass am 1. Dezember sechs weitere Bundesländer dazukommen, bevor im Februar 2023 die restlichen Bundesländer mit dem E-Rezept starten. „Niemand von Gewicht stellt heute die Vorzüge des E-Rezepts in Frage“, ist Feltens überzeugt.
Für die reinrassigen Online-Apotheken wird die Einführung des E-Rezepts allmählich aber auch zur Daseinsfrage, wie sich an den Aktienkursen von Shop Apotheke und der Schweizer Zur Rose, zu der Platzhirsch Doc Morris gehört, ablesen lässt. Mit jeder Verzögerung sinkt das Vertrauen der Investoren. „Ich hatte zuletzt ein Gespräch mit einem unserer größten Investoren, die sitzen in Schweden. Dort kann man die Diskussion gar nicht nachvollziehen. Ich kann verstehen, dass das Hin und Her die Kapitalmärkte verunsichert“, sagt Feltens.
Umgekehrt will er sich seinen Grundoptimismus jedoch nicht nehmen lassen. „Es ist ein Meilenstein, wir sind nicht mehr in der Testphase.“ Wenngleich andere Länder bei der Einführung des E-Rezepts wesentlich schneller waren als Deutschland, stellt Feltens klar, dass das Vorhandensein des E-Rezepts für Online-Apotheken jedoch nicht ausreicht. „Für uns sind zwei Dinge erforderlich: Zum einen haben wir idealerweise ein elektronisches Rezept. Zum anderen muss aber auch der Versand von Arzneien erlaubt sein.“ In Skandinavien, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden sei das der Fall. In vielen Ländern der EU sei der Medikamentenversand aber bis heute nicht erlaubt.
Heute entfallen etwa 10 % des Umsatzes der Shop Apotheke auf verschreibungspflichtige Medikamente (Rx). Das Gros des Umsatzes wird dagegen mit verschreibungsfreien Medikamenten (OTC) erwirtschaftet. Feltens rechnet in diesem Jahr mit einem Umsatz mit verschreibungspflichtigen Medikamenten in Deutschland von 120 Mill. Euro. Diese Umsätze basierten rein auf Papierrezepten, die Kunden postalisch einreichen. „Ein paar Jahre nach der Einführung des E-Rezepts sollte der Online-Marktanteil von Rx bei 10 % liegen. Heute sind es nur 0,6 %“, veranschaulicht Feltens das riesige Wachstumspotenzial.
Wie sich der Umsatz in ein paar Jahren zwischen Rx und OTC aufteilt, dazu wagt Feltens keine konkrete Prognose, aber: „Wir erwarten eine Vervielfachung des Rx-Umsatzes.“ Das ist auch betriebswirtschaftlich relevant, denn das Rx-Geschäft ist wesentlich margenträchtiger. „Fast jede Rx-Bestellung ist Cashflow-positiv. Das können wir leider nicht von jeder anderen Bestellung sagen. Das heißt, wenn sich der Rx-Anteil in den kommenden Jahren ausweitet, wird sich auch die Ertragskraft der Shop Apotheke deutlich verbessern“, erklärt Feltens. Auch das erklärt die Enttäuschung der Investoren auf jede Nachricht von weiteren Verzögerungen.
Im Gegensatz zum Wettbewerber Zur Rose, über dessen Verkauf oder Partnersuche kürzlich sogar spekuliert wurde, hält Feltens an der Stand-alone-Strategie der Shop Apotheke fest: „Wir benötigen kein weiteres Kapital, bis wir nachhaltig profitabel und Cashflow-positiv sind.“ Das verdankt Shop Apotheke auch der vorausschauenden Finanzierungspolitik, hat sich der Versandhändler auf dem Höhepunkt der Coronakrise im Januar 2021 doch 225 Mill. Euro über eine Wandelanleihe besorgt. Per Ende Juni lagen 250 Mill. Euro in der Kasse. Kapitalbedarf gebe es allenfalls im Falle einer größeren Akquisition, sagt Feltens, schiebt aber direkt nach: „Größere Übernahmen haben momentan aber keine Priorität.“