„Ein verlorenes Jahr für die Aktionärsdemokratie“
Sabine Wadewitz
Herr Wilhelm, Frau Dr. Rothacker, gute Unternehmensführung wird mit dem Fokus auf ESG deutlich breiter gefasst, als es das traditionelle Gerüst der Corporate Governance vorgibt. Wo setzen Sie als Investor die Schwerpunkte?
Wilhelm: Wir sehen uns in der Rolle, die Transformation der Unternehmen zu mehr Nachhaltigkeit aktiv zu begleiten. Voraussetzung dafür ist, dass die Konzerne sich klare Nachhaltigkeitsziele geben und mehr Transparenz schaffen. Es sollte auch klar sein, wer im Unternehmen für welche ESG-Ziele verantwortlich ist. Vor allem aber ist eine nachvollziehbare Berichterstattung über Nachhaltigkeit essenziell. Nur so können wir feststellen, inwieweit die Ziele erreicht werden.
Corporate Governance wird also relativ umfassend neu gedacht?
Wilhelm: Eine gute Governance ist entscheidend für einen nachhaltigen Unternehmenserfolg. In dem Thema ist weiterhin sehr viel in Bewegung, Corporate Governance gewinnt eindeutig an Fahrt. Das liegt an gesellschaftlichen Diskussionen, aber auch am Vorhaben, sich zu einer nachhaltigeren Volkswirtschaft zu wandeln. Der Regulator ist aktiv, die Investoren setzen neue Anforderungen und die Unternehmen sind intensiv um ESG-Fortschritte bemüht, um nicht in Bereichen des Kapitalmarktes zu landen, die für Anleger immer schwerer investierbar sind.
Welche ESG-Ziele haben für Sie besondere Relevanz? Mitarbeiterzufriedenheit gewichten Sie vermutlich anders als CO2-Ziele.
Rothacker: Das kann man nicht verallgemeinern. Wir beurteilen ESG-Themen spezifisch für jede Branche, wenn nicht auf Unternehmensebene. Jeder Konzern muss eine detaillierte Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln, die zum Geschäftsmodell passt. Auf dieser Basis müssen die Themen bewertet werden. Für einen Energieversorger wie RWE hat ein CO2-Ziel ein anderes Gewicht als für eine Bank.
Kommt es Investoren denn überhaupt zu, gesellschaftspolitische Ziele zu unterstützen? Sie sind ja keine NGO.
Rothacker: ESG ist für unsere Investments nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch fundamental relevant. Am Ende wägen wir Chancen und Risiken gegeneinander ab. Nicht nur die CO2-Bepreisung stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen. Auch eine hohe Unzufriedenheit von Mitarbeitern und entsprechend hohe Fluktuation kann die Performance beeinträchtigen.
Das Prinzip des Shareholder Value ist demnach nicht abgeschafft?
Wilhelm: Im Gegenteil! Die Unternehmen brauchen heute eine überzeugende Nachhaltigkeitsstrategie, um die gesellschaftliche Akzeptanz und das Vertrauen ihrer Kunden zu gewinnen und zu behalten. Genauso müssen auch Banken und Finanzierer überzeugt werden. Auch die Geldgeber stehen unter Beobachtung, nach welchen Kriterien sie ihre Mittel einsetzen. Wenn Unternehmen ESG-Kriterien nicht erfüllen, wird ihre Finanzierung teurer, im Extremfall bekommen sie überhaupt kein Geld mehr.
Wird den Unternehmen nicht zu viel zugetraut? Manche Ziele sollten vielleicht eher in der Regie der Politik bleiben?
Wilhelm: Ich halte es nicht für sinnvoll, dass der Staat alles regelt, da setze ich lieber auf den Dialog der Unternehmen mit dem Markt. Dann setzten sich die besten Ideen durch. Es besteht ein großes Risiko, dass regulatorische Vorgaben die Unternehmen einseitig belasten und dies dann nicht in die Unternehmenskultur einfließt, sondern bürokratisch im Box Ticking endet.
Bei einigen Unternehmen gewinnt man eher den Eindruck, sie betrachteten ESG-Themen noch als lästige Pflicht und Modeerscheinung.
Wilhelm: Das Bild ist uneinheitlich. Viele Unternehmen gehen mit großer Ernsthaftigkeit an diese Themen heran, andere warten ab, bis eine detaillierte Taxonomie aus Brüssel kommt. Damit laufen sie aber Gefahr, das Heft des Handelns aus der Hand zu geben.
Rothacker: In unseren Gesprächen mit den Unternehmen sehen wir eine große Bandbreite. Es gibt Firmen, die sehr professionell Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt haben und diese verantwortungsvoll umsetzen. Andere Gesellschaften laufen hinterher. Die Nachzügler sind in der Regel diejenigen, die mehr Zeit verlangen.
Sie haben die Unternehmen aus dem Dax und MDax erneut einem Governance-Ranking unterzogen. Wie stark sind E+S-Themen in die Bewertung eingeflossen?
Rothacker: Wir haben das Ranking überarbeitet und die klassischen Governance-Themen bewusst etwas breiter gefasst. So schauen wir uns an, ob die Gesellschaft einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht und welche Informationen in der nichtfinanziellen Erklärung gegeben werden – über Themen wie Umweltbelange, Menschenrechte, Korruption oder Bestechung. Wir bewerten auch, ob das Unternehmen Stellung bezieht zu den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und zum UN Global Compact. Das sind einige neue Transparenzanforderungen.
Die vieldiskutierte Vorstandsvergütung dürfte bei ESG auch eine zentrale Rolle spielen?
Rothacker: Ja, absolut. Wir fordern, dass ESG-Ziele in die langfristige variable Vergütungskomponente integriert werden. Bislang ist das leider oft nur in der kurzfristigen Komponente der Fall. Weiteres zentrales Anliegen ist die Besetzung der Gremien mit Blick auf den Aspekt der Diversität. Das Ranking berücksichtigt beispielsweise Geschlechterverteilung und Internationalität.
Der Notenschnitt im Dax hat sich leicht verschlechtert. Lässt das auf eine Trendumkehr schließen?
Rothacker: Ich würde nicht von einer Trendumkehr sprechen. Wir haben ja die Kriterien für das Ranking erweitert und fragen mehr Daten ab, schauen also noch genauer hin und finden dabei natürlich auch mehr Schwachstellen.
Wilhelm: Zudem gab es einige Veränderungen in der Zusammensetzung des Dax. Ich würde den Unternehmen nicht generell ein schlechteres Zeugnis ausstellen. Allerdings ist das vergangene Jahr auch nicht genutzt worden, um eine Schippe drauf zu legen. Es gibt Themen wie den Deutschen Nachhaltigkeitskodex, die Unternehmen häufig noch ignorieren. Der Fokus auf die zukünftig relevanten Themen und anspruchsvollere Ziele ist noch nicht überall zu finden. Die Spreizung im Ranking wird breiter. Die Dax-Konzerne haben die niedrig hängenden Früchte geerntet, jetzt muss es weitergehen.
Zentrale Defizite lassen sich nach wie vor in der Aufsichtsratsbesetzung erkennen. Hier hat der Kodex mit Blick auf Overboarding und Unabhängigkeit nachgeschärft. Läuft das ins Leere?
Rothacker: Diese Themen sind nach wie vor hoch relevant. Wegen Ämterhäufung stimmen wir weiterhin gegen viele Aufsichtsratskandidaten auf Hauptversammlungen. Wir wünschen uns mehr Bewegung und mehr frischen Wind in den Aufsichtsräten. Deshalb setzen wir uns für eine Verkürzung der Amtszeiten ein.
Beim Thema Unabhängigkeit hakt es offensichtlich auch noch?
Rothacker: Ja, insbesondere beim Vorsitz des Prüfungsausschusses. Diesen stufen wir bei zwölf Dax-Unternehmen als nicht unabhängig ein. Die Situation ist im Vergleich zum Vorjahr leider unverändert. Es gibt überdies immer noch zu viele Unternehmen im Dax, bei denen die Aktionärsvertreterseite im Aufsichtsrat nicht mindestens zur Hälfte unabhängig besetzt ist. Das bleibt eine große Baustelle.
Auffällig im Ranking ist der drastische Abstieg von SAP. Was ist im Softwarekonzern passiert?
Rothacker: Es geht vor allem um den Aufsichtsrat. SAP hat zwar eine allgemeine Kompetenzmatrix, legt aber nicht offen, wer welche Kompetenzen erfüllt. Punktabzug gibt es auch, weil SAP keine Regelzugehörigkeitsdauer für Aufsichtsräte mehr angibt. Verschiedene Kritikpunkte betreffen zudem die Vorstandsvergütung, was sich auch schon beim Say on Pay auf der Hauptversammlung im vergangenen Jahr im Abstimmungsergebnis bemerkbar machte.
Wie stark ist die Diskrepanz in der Governance-Qualität zwischen Dax und MDax?
Rothacker: Das Positive vorweg: Die besten MDax-Unternehmen können mit den Dax-Konzernen mithalten. Einige dieser Unternehmen gehörten zwar zuvor zum Dax, aber es gibt auch andere Gesellschaften im MDax mit guter Governance-Qualität. Wenn man im Ranking weiter nach unten schaut, wird es allerdings düster. Die Bandbreite der Punktzahl ist im MDax deutlich größer, das Notenspektrum läuft von 1 minus bis 6. Am unteren Ende sind noch viele Hausaufgaben zu machen, speziell beim Thema Transparenz.
Die zweite Runde virtueller Hauptversammlungen als Notformat in der Coronakrise ist gelaufen. Hat sich mit Blick auf die Aktionärsrechte etwas verbessert, haben Unternehmen auf die heftige Kritik von Investoren reagiert?
Wilhelm: Die Präsenz-HV muss nach Corona der gesetzliche Normalfall bleiben. Auch im zweiten Jahr ist klargeworden, dass rein digitale Formate nur als Notlösung in Pandemiezeiten geeignet sind. Es gab zwar kleinere Nachbesserungen durch den Gesetzgeber, doch die Unterschiede zur Präsenz-HV bleiben eklatant und die meisten Unternehmen orientieren sich immer noch am Mindeststandard der Covid-19-Notfallgesetzgebung. Wir erleben gerade ein weiteres verlorenes Jahr für die Aktionärsdemokratie. Die Hauptversammlung war vor Corona das einzige Format, in dem Investoren mit dem gesamten Vorstand und Aufsichtsrat öffentlich in den Dialog treten konnten. Das brauchen wir auch in Zukunft wieder.
Worüber haben Sie sich besonders geärgert?
Rothacker: Ein Tiefpunkt war, dass in der Hauptversammlung von Delivery Hero der Vorstandsvorsitzende nicht persönlich anwesend war, um Fragen zu beantworten. Es reicht nicht, sich mit einem Videostatement zu Wort zu melden und die Fragenbeantwortung dem Finanzvorstand und dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu überlassen.
Gab es denn auch positive Erfahrungen?
Rothacker: Ja, die gab es, wenn auch nur vereinzelt. Auf der BMW-HV waren der gesamte Vorstand und fast der gesamte Aufsichtsrat vor Ort. CEO Oliver Zipse hat unterstrichen, dass die Hauptversammlung für ihn die wichtigste Veranstaltung des Jahres ist. Auch im Ablauf ist uns die BMW-HV positiv aufgefallen, da es eine klare Struktur gab und bei den Themenkomplexen vorab eingeblendet wurde, in welcher Reihenfolge die Fragen beantwortet werden. Positiv hervorzuheben ist auch die Deutsche Bank, die den Aktionären als einziges Unternehmen ein Live-Rederecht ermöglicht hat. Bei der Qualität der Antworten sticht die Deutsche Post hervor. Aber die meisten Unternehmen sind leider beim Minimalprogramm geblieben. Das ist weit von dem entfernt, was wir von einer aktionärsfreundlichen Hauptversammlung erwarten.
Das Interview führte
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