IM INTERVIEW: FRANK GOTTHARDT UND CHRISTIAN TEIG, COMPUGROUP

"Ein wirklich bedeutendes Zukunftsgeschäft"

Der Vorstandschef und der Finanzvorstand des Medizinsoftwarekonzerns über digitale Patientenakten, Telematik-Netz und Ertragsziele

"Ein wirklich bedeutendes Zukunftsgeschäft"

Vor einem Jahr begann der flächendeckende Roll-out der Telematik-Infrastruktur für das Gesundheitswesen in Deutschland. Das System vernetzt Ärzte, Zahnärzte oder Kliniken sowie Apotheken und gesetzliche Krankenkassen. Die digitale Autobahn soll das Rückgrat für einen reibungslosen und vor allem sicheren Austausch medizinischer Daten werden. Doch das System kommt langsamer voran als erwartet.- Herr Gotthardt, Herr Teig, warum verläuft der Aufbau der digitalen Infrastruktur so schleppend?Gotthardt: Wir haben unsere Ziele erreicht. Man kann sich immer mehr wünschen. Das betrifft aber nicht uns, sondern die anderen Anbieter. Sie haben länger gebraucht als erwartet, um ihre Produkte an den Start zu bringen. Zum Teil sind sie immer noch nicht so weit. Die Konkurrenten bedienen ein Spektrum von Kunden, die wir nur schwer erreichen. Daher sind diese Leistungserbringer bisher nicht dabei. Insofern hätte sicher mehr passieren können. Das kommt aber jetzt.Teig: Ursprünglich sollte der Aufbau Mitte 2018 abgeschlossen sein. Jetzt gilt eine Frist bis Mitte 2019. Deutschland ist also ein Jahr im Verzug. Angesichts der Größe des Projekts ist das relativ unwichtig. Der Aufbau kommt in Fahrt, viel ist schon erreicht. Von unseren 60 000 Stammkunden sind inzwischen mehr als 30 000 an die digitale Infrastruktur angebunden. Das ist mehr als die Hälfte. Darüber hinaus lagen Ende September 8 000 Bestellungen von Fremdkunden vor.- Insgesamt müssen aber 200 000 Leistungserbringer angeschlossen werden. Das zeigt doch, dass die Ärzte zurückhaltend sind.Gotthardt: Es kann immer schneller gehen. Einzelne Ärzte stehen der Telematik reserviert gegenüber, doch von genereller Zurückhaltung kann keine Rede sein. Natürlich ist das System auf eine Reichweite von 100 % angelegt. Das hat das Parlament so beschlossen. Aber man kommt auch mit 80 % oder 90 % sehr weit. Ich kenne viele Datennetze, aber keines, das eine so hohe Verlässlichkeit hat wie die Telematik-Infrastruktur. Darauf kann Deutschland stolz sein, auch wenn man lange gebraucht hat, um da hinzukommen.- Wie hoch wird die Reichweite bis Mitte 2019 sein?Gotthardt: Das kann man schwer abschätzen. Es hängt nicht nur von den Bestellungen der Ärzte ab, sondern auch von der Lieferfähigkeit der Mitbewerber.- Welchen Umsatzbeitrag leistet der Roll-out in diesem Jahr?Teig: Das berichten wir nicht separat. Auf Konzernebene haben wir den Ausblick bestätigt, der 700 bis 730 Mill. Euro Umsatz vorsieht nach 582 Mill. Euro im Vorjahr. Das ergibt eine Steigerung von 20 bis 25 %, für die der Telematik-Roll-out in Deutschland sehr wichtig ist.- Compugroup war lange der einzige Anbieter. Inzwischen verfügen auch T-Systems und Rise aus Österreich über die erforderlichen Zulassungen und vertreiben ihre Telematik-Geräte. Hat sich der Wettbewerb verstärkt?Gotthardt: Nein, bis jetzt hat sich nichts verändert. In viele Allianzen, die sich für diese Aufgabenstellung gebildet haben, sind wir sowieso nicht reingekommen. T-Systems zum Beispiel, die auch Konnektoren anbietet, hat sich mit unserem größten Wettbewerber, dem Software-Anbieter Medatixx, verbündet. Wir pflegen unsere Allianzen, und das machen auch die Konkurrenten. Teig: Für Ärzte und Zahnärzte spielt die Empfehlung ihres Software-Hauses eine große Rolle. Wenn zum Beispiel Metatixx einem Arzt rät, mit T-System zusammenzuarbeiten, dann hält er sich in der Regel daran.Gotthardt: Die Architektur, die Infrastruktur, die Komponenten, all das ist wichtig. Aber viel wichtiger ist, dass es ein laufendes Geschehen in der Infrastruktur gibt, dass wir die Basis nutzen für Vernetzungsaktivitäten. Zurzeit läuft in dem System nur der Abgleich von Versichertenstammdaten. Das ist zwar nicht unwichtig, denn damit wird Ärzten geholfen, deren Job ist zu prüfen, ob ein Patient überhaupt versichert ist. Doch das ist nur Verwaltung, keine Medizin.- Welche medizinischen Anwendungen sind geplant?Gotthardt: Die ersten Schritte sind die Speicherung der Notfalldaten auf der Gesundheitskarte und elektronische Medikationspläne. Auch bei diesen Themen werden wir der erste Anbieter sein. Anfang der zweiten Jahreshälfte dürften die ersten Pilotanwendungen kommen. Nächster Schritt ist die elektronische Signatur. Die ist wichtig, um echte medizinische Anwendungen zu fahren, die eine breite Vernetzung nach sich ziehen. Die elektronische Signatur gewährleistet die Authentizität medizinischer Informationen und den verlässlichen und sicheren Austausch. Dafür sollte allerdings der elektronische Heilberufeausweis verpflichtend werden, was im Ausland vielfach schon der Fall ist.- Zentrales Element der geplanten Vernetzung ist die elektronische Patientenakte, die Diagnosen, Behandlungen, Medikamente und weitere Daten speichert und auf die Ärzte oder Apotheker ohne Zeitverzug zugreifen können, sofern der Patient zugestimmt hat. Spätestens 2021 soll allen gesetzlich Versicherten eine solche Datei zur Verfügung stehen. Was bedeutet die künftige Anwendung für Compugroup?Gotthardt: Als Dienstleister die patientenzentrierte elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen ist für uns ein wirklich bedeutendes Zukunftsgeschäft. Wir werden da mitspielen. Wir wollen eine wichtige Rolle einnehmen, nicht nur in Deutschland, und erwarten ein großes Geschäftspotenzial. Im Privatversicherungsmarkt ist Compugroup Medical mit dem Produkt bereits unterwegs. Da arbeiten wir mit den großen Versicherungen zusammen. Unser Angebot kann schon etwa die Hälfte der Versicherten erreichen.- Welche Dimension wird das Geschäft ausmachen?Gotthardt: Zunächst geht es um den Basisdienst, also den Service, die Akte zu betreiben und verfügbar zu halten. Je nach Datenmenge und -tiefe kostet so etwas zwischen 5 und 50 Euro pro Patient jährlich. Wie sich das Volumen auf einzelne Anbieter verteilt, wird man sehen. Hinzu kommen die eigentlichen Vernetzungsdienste. Ein Beispiel sind Algorithmen, die unter Rückgriff auf Spezialdatenbanken automatisiert überprüfen, ob eine neue Medikamentierung verträglich ist. Der Arzt bekommt einen Hinweis, falls Unverträglichkeiten drohen. Dieser Beitrag zur Arzneimitteltherapiesicherheit wird Patienten und Krankenkassen etwas wert sein. Jährlich sterben Schätzungen zufolge in Deutschland zwischen 27 000 und 45 000 Menschen, weil sie, vereinfacht gesagt, ein falsches Medikament bekommen haben.Teig: Das ist ein kommender Markt. Alle positionieren sich, wir auch. Bisher ist der Umsatz fast null, nächstes Jahr sicher auch. Aber man sieht einen Zukunftsmarkt, der deutlich größer ist als unser heutiges Geschäft mit Primärsoftware für Leistungserbringer. Klar, da werden wir nicht allein unterwegs sein, aber wir sind mit Blick auf Technologie, Reichweite und Organisation gut positioniert.Gotthardt: Studien kommen zu dem Ergebnis, dass E-Health die Effizienz im Gesundheitswesen um 35 Mrd. Euro im Jahr steigern kann. Wenn man davon ausgeht, dass davon 10 % an diejenigen gehen, die die erforderlichen Produkte und Dienstleistungen entwickeln und anbieten, wäre das ein Markt von 3,5 Mrd. Euro.- Das rechtfertigt ein eigenständiges Segment für das Geschäft?Gotthardt: Ja. Den Vorstand haben wir bereits dafür aufgestellt. Die Themen Patientenakten, Vernetzung und vernetzungsnahe Dienste brauchen mehr Aufmerksamkeit. Darum möchte ich mich nun verstärkt kümmern. Und daher wurde die operative Verantwortung für Arzt-, Zahnarzt- und Apothekeninformationssysteme dem neuen Vorstandsmitglied Ralph Körfgen und die für den stationären Bereich an den neuen Kollegen Hannes Reichl übergeben. Die Initiative der Bundesregierung zur Patientenakte wird zu einer Beschleunigung führen. Aber man kann schon heute solche Dienste anbieten, unabhängig von den Aktivitäten, die der Gesetzgeber der Telematik-Infrastruktur zuordnet.- Die Marge vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen soll 2018 von 22 % im Vorjahr auf 25 bis 26 % steigen. Können Sie das erhöhte Niveau im neuen Jahr halten?Teig: Für 2019 erwarten wir einen geringeren Beitrag aus dem Telematik-Roll-out. Die Analysten erwarten im Schnitt 700 Mill. Euro Umsatz für 2019 und 715 Mill. Euro Umsatz für 2018. Es wird weniger Umsatz geben mit Geräten und Installationen, aber höhere Einnahmen aus Servicepauschalen, und im zweiten Halbjahr kommen neue Anwendungen. Die Analystenschätzungen für den operativen Gewinn liegen bei 180 Mill. Euro. Das ist vergleichbar mit dem 2018er-Ergebnis, für das wir eine Guidance von 175 bis 190 Mill. Euro gegeben haben. Insgesamt zeichnet sich damit eine stabile Entwicklung ab, kein zweistelliges Wachstum. Einen genaueren Ausblick werden wir Anfang Februar 2019 geben. Für die Folgejahre erwarten wir weiteres Umsatzwachstum, mehr und mehr aus neuen Anwendungen.- Wann kommt das Langfristziel von 30 % Ebitda-Marge in Reichweite?Teig: In der Vergangenheit war diese Marke weit weg, jetzt nicht mehr. Es geht alles in die richtige Richtung. Wir haben aber offengelassen, wann das Ziel erreicht werden soll. Das hängt nicht zuletzt von den Aufwendungen für die Produkt- und Marktentwicklung ab. In den Jahren 2013 bis 2017 haben wir viel in die Telematik-Infrastruktur investiert. Das hat die Ertragsrechnung belastet. Nun kommen die Investitionen in die Patientenakte. Aber unser Geschäft ist gut skalierbar und weist einen hohen Anteil an wiederkehrenden Erlösen auf.- Steht angesichts des diesjährigen Margensprungs auch ein Sprung bei der Dividende an? Schon seit sechs Jahren liegt der Ausschüttungssatz bei 0,35 Euro.Gotthardt: Das werden die Aktionäre entscheiden.- Sie sind der Großaktionär mit 33,65 % des Grundkapitals.Gotthardt: Ich favorisiere ein gesundes Mittelmaß. Das Unternehmen soll ausreichend Liquidität haben, um sich gut zu entwickeln, aber als Aktionär möchte ich auch eine gute Dividende kriegen.Teig: In den vergangenen zehn Jahren haben wir bewiesen, dass wir sowohl organisches Wachstum und Akquisitionen finanzieren als auch Dividenden zahlen und Aktien zurückkaufen können.- Mit knapp 1 % des Grundkapitals fällt das laufende Aktienrückkaufprogramm aber bescheiden aus.Teig: Über die Jahre haben wir bereits 7,45 % der eigenen Aktien erworben. Hinzu kommt das aktuelle Programm. Anders als viele Technologiefirmen verzichten wir außerdem darauf, ständig neue Aktien auszugeben. Da sind wir sehr diszipliniert.- Der Telematik-Roll-out scheint das Unternehmen stark zu fordern, die anderen Segmente bleiben zurück. Der Apothekenbereich hat sich zuletzt abgeschwächt, die Krankenhaussparte stagniert.Teig: Das Apothekengeschäft liegt noch immer über dem Ausblick für das Gesamtjahr. Die flache Umsatzentwicklung im dritten Quartal haben wir erwartet und deshalb auf eine Anhebung der Prognose nach dem starken ersten Halbjahr verzichtet. Das Krankenhausgeschäft bewegt sich ebenfalls im Plan. In diesem Segment haben wir Produktentwicklung und Vermarktung in den Kernländern Deutschland, Österreich und Schweiz angeschoben. Es dauert 24 bis 36 Monate, bis man die Effekte sieht. Unter den Erwartungen liegt lediglich das kleine Segment Health Connectivity Services, das nur 5 % zum Gesamtumsatz beiträgt und damit kaum ins Gewicht fällt.Gotthardt: Die anderen Segmente haben keinesfalls unter dem Telematik-Aufbau gelitten. Wenn, dann kann es im Arzt- und Zahnarztbereich selbst zu Belastungen gekommen sein, weil das Unternehmen nicht unendlich viele Ressourcen hat, um all die Leistungen auszurollen.- Die Krankenhaussparte ist mit 100 Mill. Euro Umsatz noch immer klein und auf den deutschsprachigen Raum fokussiert, der 70 % des Umsatzes ausmacht. Ist eine stärkere Internationalisierung geplant?Gotthardt: Wir sind hier auch in Schweden und Polen gut unterwegs. Wichtig ist erst einmal, das Volumen in bestehenden Märkten auszubauen. Wir haben viel investiert und eine neue Produktgeneration entwickelt, die das organische Wachstum stärkt und die Internationalisierung leichter macht. Diese Arbeiten sind weit fortgeschritten.- Welche Sektoren und Regionen stehen bei Übernahmen im Vordergrund?Teig: Akquisitionen sollen eine Komponente im Wachstum bleiben. Das Interesse richtet sich vor allem auf komplementäre Unternehmen in bestehenden Märkten. In den vergangenen zehn Jahren sind wir im Schnitt um 6 % jährlich durch Zukäufe gewachsen. Wir haben fast 50 Unternehmen erworben – von großen bis sehr kleinen. Häufig handelte es sich um Folgekäufe in Bestandsmärkten.- Wo wollen Sie in fünf Jahren bei der Internationalisierung stehen?Gotthardt: In den großen Märkten wollen wir stärker werden, insbesondere in Nordamerika und Europa. Für Asien gibt es im Moment keine Pläne.- Das US-Geschäft ist aber seit langem ein Schwachpunkt. Ist Besserung in Sicht?Gotthardt: In den Vereinigten Staaten liegt eine lange Durststrecke hinter uns. Die Probleme konzentrieren sich auf den Arztbereich, wo bisher das konsolidierende neue Produkt gefehlt hat. Das ändert sich jetzt. Mit den neuen Produkten wollen wir das Arztgeschäft sukzessive auf das ganze Land ausbreiten. Mit Laborsoftware sind wir bereits US-weit unterwegs und machen gutes Geschäft.- Verdient Compugroup überhaupt Geld in den USA?Teig: Wir schreiben derzeit eine schwarze Null. Die Deckungsbeiträge werden in die Produktentwicklung investiert. In diesem Jahr steht die Arbeit an der Software im Vordergrund. Von der Einführung unserer Konzernprodukte in den USA erwarten wir eine effizientere Struktur und Vorteile für Wachstum und Umsatz, die allerdings frühestens 2019 greifen werden.—-Das Interview führte Helmut Kipp.